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(Amsterdam, 13. September 2011) – Das niederländische Zivilrecht verletzt die Menschenrechte von Transgender und muss unverzüglich geändert werden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Regierung soll Artikel 28 des entsprechenden Gesetzbuches revidieren. Er zwingt Transgender, die ihr Geschlecht auf offiziellen Dokumenten anerkennen lassen möchten, Hormone einzunehmen und Operationen durchführen zu lassen, die den Körper verändern und die zu einer dauerhaften und irreversiblen Sterilisation führen.

Der 85-seitige Bericht „Controlling Bodies, Denying Identites: Human Rights Violations Against Trans People in the Netherlands“ dokumentiert die Folgen des im Jahr 1985 verabschiedeten Gesetzes für das Leben von Transgender. Die in ihm verbrieften Voraussetzungen für die Änderung der offiziellen Geschlechtsangabe verletzen die persönliche Autonomie und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Sie sprechen Transgender die Fähigkeit ab, ihre Geschlechtszugehörigkeit selbst zu bestimmen. Eine menschenrechtskonforme Änderung des Gesetzes ist notwendig, die medizinische und rechtliche Fragen voneinander trennt. Medizinische Eingriffe dürfen nicht Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung einer bestimmten Geschlechtsidentität sein.

„Das niederländische Recht ist verantwortlich für das Leid von Transgender, die den erforderlichen Eingriff nicht vornehmen lassen“, so Boris Dittrich, Advocacy-Direktor des Human Rights Watch-Programms für lesbische, schwule, bi- und transsexuelle Menschen (LGBT). „Ihre Papiere passen nicht zu der Geschlechtsidentität, die sie empfinden. Dadurch erleben sie regelmäßig öffentliche Demütigung und Diskriminierung. Sie finden nur schwer Arbeit und haben Probleme, ihre Stellen zu behalten.“

Für den Bericht hat Human Rights Watch 28 Transgender befragt und Stellungnahmen von Medizinern, Rechtsexperten, Regierungsangehörigen, Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern eingeholt.
Ein Transgender kommentiert das Gesetz: „Menschen pendeln viel länger als nötig zwischen zwei Welten. So werden Personen, die ohnehin sehr verletzlich sind, grundlos traumatisiert.“
Eine andere Person fasst die Einwände gegen Artikel 28 so zusammen: „Der Staat soll die Finger von unserer Unterwäsche lassen.“

Im Jahr 1985 gehörten die Niederlande zu den ersten europäischen Staaten, die Transgender ermöglichten, ihr Geschlecht offiziell zu ändern. Aber mehr als ein Vierteljahrhundert später gehört das Land nicht mehr zu den führenden Ländern. Das ehemals progressive Gesetz hat den Anschluss an aktuelle Best-Practice-Beispiele verloren und widerspricht internationalen Menschenrechtsnormen, denen die Niederlande verpflichtet sind.

Einige europäische Staaten, etwa Portugal, Großbritannien und Spanien, haben die Pflicht zu Operationen und Hormonbehandlungen bereits abgeschafft. In den Niederlanden müssen Transgender immer noch schwerwiegende Eingriffe mit langen Genesungszeiten über sich ergehen lassen, um ihr Geschlecht offiziell ändern zu können.
Das Recht von Transgender auf persönliche Autonomie und körperliche Unversehrtheit ist in der niederländischen Verfassung verbrieft und wird durch Gesetzesvorschriften eingeschränkt. Darüber hinaus schützen zahlreiche internationale Menschenrechtsabkommen, die die Niederlande ratifiziert haben, die Menschenrechte von Transgender, etwa der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die Europäische Menschenrechtskonvention.

„Es dauert Jahre, bis Menschen die Anforderungen aus Artikel 28 erfüllen“, sagt Dittrich. „In der Zwischenzeit müssen sie mit Ausweispapieren leben, die einen grundlegenden Aspekt ihrer Persönlichkeit leugnen. Wer sich keiner Operation unterziehen will, kann seine Dokumente nicht ändern lassen – und lebt für immer mit dieser Belastung.“

Für viele Transgender spielt eine große Rolle, ihre Arbeitsplätze zu behalten oder eine neue Anstellung zu finden.

„Wenn ich neue Papiere hätte, würde es in meinen Vorstellungsgesprächen nicht mehr darum gehen, dass ich Transgender bin“, sagt eine Frau. Ein Mann beschreibt, dass er im Wartezimmer eines Krankenhauses ignoriert wurde, weil die Krankenschwester ausschließlich nach einer „Frau K.“ suchte, deren Unterlagen ihr vorlagen.
Die Yogyakarta-Prinzipien über die Anwendung internationaler Menschenrechtsnormen auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität liefern eine Grundlage für die Änderung des strittigen Paragraphs. Sie ermutigen Regierungen zu Maßnahmen, die allen Menschen ermöglichen, ihre Geschlechtsidentität selbst zu bestimmen. Die niederländische Regierung befürwortet diesen Grundsatz. Im Mai 2008 sicherte der Außenminister Maxime Verhaben in einer Stellungnahme gegenüber den Vereinten Nationen (UN) zu, dass die Niederlande sich auf die rechtlich unverbindlichen Yogyakarta-Prinzipien verpflichten. Er rief andere UN-Mitgliedsstaaten dazu auf, diesem Beispiel zu folgen und die Prinzipien ebenfalls zu übernehmen.

Die niederländische Regierung muss das Recht von Transgender wahren, einen Vornamen zu wählen, der ihrer Geschlechtsidentität entspricht. Dieses Recht muss unabhängig von der offiziellen Geschlechtsangabe gewährt werden. Unter den gegenwärtigen Bestimmungen haben einige Richter Transgender untersagt, ihren gewählten Namen zu benutzen, weil dieser ihrer offiziell anerkannten Geschlechtszugehörigkeit „nicht angemessen“ sei.
Die neuen Rechtsvorschriften müssen auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es im besten Interesse von transsexuellen Kindern sein kann, ihre offizielle Geschlechtszugehörigkeit zu ändern, bevor sie volljährig werden. Es soll dafür kein Mindestalter geben. Stattdessen soll die individuelle Situation jedes Kindes berücksichtigt werden, um zu entscheiden, ob es in ihrem besten Interesse ist, Geschlechtsangaben zu ändern.

„Auch minderjährige Kinder müssen ihre Meinung darüber äußern dürfen, ob die Änderung ihrer Geschlechtsangabe erforderlich ist. Je älter ein Kind wird, desto größeres Gewicht hat seine Meinung“, so Dittrich.
Mehrere Male seit 2009 haben die frühere und die aktuelle niederländische Regierung bei unterschiedlichen Gelegenheiten zugesagt, Artikel 28 zu ändern. Im März 2011 hieß es aus dem Justizministerium, dass noch vor der Sommerpause ein Gesetzesentwurf eingebracht werde, der die Anforderung der Unfruchtbarkeit für die offizielle Anerkennung der Geschlechtsidentität von Transgender abschafft. Bislang wurde keine entsprechende Vorlage gemacht.

„Transgender haben es satt, mit leeren Versprechungen vertröstet zu werden“, so Dittrich. „Sie fordern sofortige Veränderung. Es wird viel Zeit vergehen, bevor ein neues Gesetz in Kraft tritt. Bis dahin müssen Transgender täglich mit Demütigung, Diskriminierung und Frustration leben.“

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