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Ägypten: Grassierende Folter möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Systematische Anwendung von Schlägen, Elektroschocks und Stresspositionen gegen Dissidenten

Sicherheitskräfte überwachen den Tahrir Platz am 5. Jahrestag des Aufstands, durch den die 30-jährige Herrschaft Hosni Mubaraks beendet wurde, Kairo, Ägypten. © 2016 Mohamed Abd El Ghany/Reuters

(Beirut) – Unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi foltern ägyptische Polizisten und Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsdienstes regelmäßig Gefangene mit Methoden wie Schlägen, Elektroschocks, Stresspositionen und manchmal Vergewaltigungen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 63-seitige Bericht „‘We Do Unreasonable Things Here’: Torture and National Security in al-Sisi’s Egypt“ kommt zu dem Ergebnis, dass die weit verbreitete und systematische Folter durch Sicherheitskräfte möglicherweise ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Die Staatsanwaltschaft ignoriert es in der Regel, wenn sich Gefangene über Misshandlungen beschweren. Manchmal droht sie ihnen auch Folter an, so dass ein Klima nahezu vollständiger Straflosigkeit entsteht.

„Präsident al-Sisi hat der Polizei und dem Nationalen Sicherheitsdienst de facto grünes Licht dafür gegeben, nach Gutdünken zu foltern“, sagt Joe Stork, stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten bei Human Rights Watch. „Die Straflosigkeit für systematische Folter hat dazu geführt, dass die Bürger nicht mehr auf Gerechtigkeit hoffen können.“

Der Bericht dokumentiert, dass Sicherheitskräfte, insbesondere Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsdienstes, die dem Innenministerium unterstehen, Verdächtige foltern, um sie zu Geständnissen oder zur Herausgabe von Informationen zu zwingen oder sie zu bestrafen. Seit der damalige Verteidigungsminister al-Sisi den ehemaligen Präsidenten Mohammed Mursi im Jahr 2013 aus dem Amt putschte und begann, massiv Grundrechte einzuschränken, werden immer wieder Foltervorwürfe erhoben. Folter ist seit langer Zeit ein großes Problem im ägyptischen Strafverfolgungssystem. Die ausufernden Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte waren eine der Ursachen für die landesweiten Massenproteste im Jahr 2011, in deren Zuge Hosni Mubarak nach 30-jähriger Präsidentschaft zurücktrat.

Human Rights Watch befragte 19 ehemalige Gefangene und Familienangehörige eines weiteren Häftlings, die zwischen 2014 und 2016 gefoltert wurden, sowie ägyptische Verteidiger und Menschenrechtsanwälte. Darüber hinaus wurden Dutzende Berichte über Folter untersucht, die ägyptische Menschenrechtsgruppen und Journalisten verfasst haben. Die im Bericht dokumentierten Foltermethoden wurden in Polizeistationen und Einrichtungen des Nationalen Sicherheitsdienstes im ganzen Land angewandt. Über Jahre hinweg griffen die Verantwortlichen auf beinahe identische Methoden zurück.

Völkerrechtlich handelt es sich bei Folter um ein Verbrechen, auf das das Weltrechtsprinzip angewandt werden kann, das heißt, es kann in allen Staaten untersucht werden. Staaten sind dazu verpflichtet, alle Personen in ihrem Hoheitsgebiet zu verhaften und gegen diese zu ermitteln, wenn ein glaubwürdiger Verdacht besteht, dass sie an Folter beteiligt gewesen sind. Verdächtige müssen entweder in dem Land vor Gericht gestellt werden, in dem sie aufgegriffen werden, oder sie müssen zu diesem Zweck an einen anderen Staat ausgeliefert werden.

Seit dem Militärputsch 2013 haben die ägyptischen Behörden mindestens 60.000 Personen verhaftet oder angeklagt. Hunderte verschwanden monatelang, gegen weitere Hunderte wurden vorläufige Todesurteile verhängt, und Tausenden Zivilisten wurde vor Militärgerichten der Prozess gemacht. Mindestens 19 neue Gefängnisse wurden wegen der gewaltigen Gefangenenzahlen geschaffen. Das Hauptziel dieser Repressionen ist die Muslimbruderschaft, die größte oppositionelle Bewegung im Land.

Das Innenministerium begeht massive Menschenrechtsverletzungen am Fließband, um an Informationen über mutmaßliche Dissidenten zu gelangen und oft fingierte Verfahren gegen sie einzuleiten. Das beginnt mit willkürlichen Verhaftungen und setzt sich in Folter und Befragungen in der Zeit fort, in der die Betroffenen „verschwunden“ sind. Am Ende werden die Betroffenen Staatsanwälten vorgestellt, die häufig Druck auf sie ausüben, ihre Geständnisse zu bestätigen und Misshandlungen fast nie untersuchen.

Den ehemaligen Gefangenen zufolge beginnt die Folter damit, dass die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes einen nackten, gefesselten Verdächtigen, dessen Augen verbunden sind, mit Elektroschocks quälen, während sie ihn ohrfeigen, schlagen oder mit Stöcken und Metallstangen verprügeln. Wenn der Verdächtige den Beamten nicht die Antworten gibt, die sie wollen, erhöhen diese die Stärke und die Dauer der Elektroschocks und wenden diese nahezu immer an den Genitalien des Betroffenen an.

Daraufhin nutzen die Beamten zwei Arten von Stresspositionen, um den Verdächtigen starke Schmerzen zuzufügen, so die Befragten. Bei der ersten hängen sie die Verdächtigen an nach hinten gezogenen Armen auf, eine unnatürliche Haltung, die schreckliche Schmerzen im Rücken und in den Schultern verursacht und manchmal die Schultern ausrenkt. Bei der zweiten, die als „Huhn“ oder „Grill“ bezeichnet wird, platzieren die Beamten die Knie und Arme der Verdächtigen auf entgegengesetzten Seiten einer Stange, so dass diese auf der Ellenbeuge und der Innenseite der Knie aufliegt. Die Hände der Betroffenen werden über den Schienbeinen zusammengebunden. Wenn die Beamten die Stange anheben und die Verdächtigen wie ein Huhn auf einem Spieß aufhängen, erleiden sie unfassbare Schmerzen an Schultern, Knien und Armen.

Die Sicherheitsbeamten halten Gefangene stundenlang in diesen Stresspositionen fest und versetzen ihnen während der Verhöre weiter Schläge und Elektroschocks.

„Khaled“, ein 29-jähriger Betroffener, berichtete, dass ihn Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes im Januar 2015 in Alexandria verhafteten und in die örtliche Zweigstelle des Innenministeriums brachten. Sie sagten ihm, er solle zugeben, sich an Brandanschlägen auf Polizeiautos im Vorjahr beteiligt zu haben. Als er leugnete, irgendetwas über diese Anschläge zu wissen, entkleidete ihn einer der Beamten und begann, ihn mit Kabeln Stromschläge zuzufügen. Die Folter und die Befragungen unter schweren Elektroschocks und Stresspositionen dauerten knapp sechs Tage an, während denen Khaled keinerlei Kontakt zu seinen Angehörigen oder Anwälten aufnehmen durfte. Die Beamten zwangen ihn, ein vorgefertigtes Geständnis vorzulesen, wobei sie ihn filmten. Es besagte, er habe auf Anordnung der Muslimbruderschaft Polizeiautos angezündet.

Nach zehn Tagen befragte ein Team Staatsanwälte Khaled und andere Gefangene. Als Khaled einem Staatsanwaltschaft sagte, dass er gefoltert wurde, antworte der Staatsanwalt, dass ihn das nichts angehe. Er befahl Khaled, das auf Video aufgezeichnete Geständnis zu wiederholen, andernfalls würde er zurückgeschickt und erneut gefoltert.

„Man ist ihnen komplett ausgeliefert. ‚Egal was wir sagen, du wirst es tun.‘ Sie verpassten mir Stromschläge am Kopf, am Hoden, unter den Armen. Sie haben Wasser heiß gemacht und mich damit überschüttet. Immer, wenn ich ohnmächtig wurde, haben sie das gemacht“, erinnert sich Khaled.

Die Anwendung von Folter in Ägypten geht mehr als drei Jahrzehnte zurück. Human Rights Watch hat die Foltermethoden, die im vorliegenden Bericht geschildet werden, bereits im Jahr 1992 dokumentiert. Ägypten ist außerdem das einzige Land, gegen das der UN-Ausschuss gegen Folter zwei öffentliche Untersuchungen durchführte. Im Juni 2017 schrieb das Gremium, dass die von ihm zusammengetragenen Beweise „unausweichlich zu dem Schluss führen, dass Folter in Ägypten systematisch angewandt wird“.

Seit das Militär den ehemaligen Präsidenten Mursi im Jahr 2013 absetzte, haben die Behörden die Repressionsinstrumente wieder eingeführt und ausgeweitet, die Mubaraks Regime charakterisierten. Die Regelmäßigkeit, mit der Folter seit dem Jahr 2013 angewandt wird, und die Straflosigkeit, mit der das geschieht, haben ein Klima geschaffen, in dem die Misshandlungsopfer keine Hoffnung darauf haben, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Nur selten reichen sie überhaupt Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft ein.

Zwischen Juli 2013 und Dezember 2016 hat die Staatsanwaltschaft mindestens 40 Folter-Fälle offiziell untersucht - einen Bruchteil der tatsächlich vorgebrachten Vorwürfe. Human Rights Watch liegen nur sechs Fälle vor, in denen Staatsanwälte Schuldsprüche gegen Beamte des Innenministeriums erwirkt haben. Gegen all diese Urteile wurde Berufung eingelegt und nur ein Urteil betraf den Nationale Sicherheitsdienst.

Al-Sisi soll das Justizministerium damit beauftragen, einen unabhängigen Sonderstaatsanwalt einzusetzen, der befugt ist, Hafteinrichtungen zu besuchen, Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte zu untersuchen und zu verfolgen, und Berichte über die von ihm ergriffenen Maßnahmen veröffentlicht. Sollte die Regierung al-Sisi nicht ernsthaft gegen die grassierende Folter vorgehen, sollen andere UN-Mitgliedstaaten gegen ägyptische Beamte ermitteln und strafrechtlich verfolgen, denen die Durchführung, Anordnung oder Unterstützung von Folter vorgeworfen wird.

„In der Vergangenheit hat Straflosigkeit für Folter Hunderten Ägyptern großes Leid zugefügt und die Aufstände im Jahr 2011 befeuert“, so Stork. „Den Sicherheitskräften zu erlauben, überall im Land diese furchtbaren Verbrechen zu begehen, legt den Grundstein für neue Unruhen.“

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