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Israel: Impfstoffe für Palästinenser in besetzten Gebieten bereitstellen

Über 4,5 Millionen im Westjordanland und Gazastreifen von Impfungen ausgeschlossen

Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu erhält in Ramat Gan, Israel, die zweite Dosis des Covid-19-Impfstoffs, 9. Januar 2021 . © 2021 AP

(Jerusalem) - Die israelischen Behörden sollten den mehr als 4,5 Millionen Palästinensern im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen Covid-19-Impfstoffe zur Verfügung stellen, so Human Rights Watch. Während Israel bereits mehr als 20 Prozent seiner Bürger, einschließlich der jüdischen Siedler im Westjordanland, bereits hat impfen lassen, sieht es sich nicht in der Pflicht, die Palästinenser zu impfen, die in eben jenem besetzten Gebiet unter seiner Militärherrschaft leben.

Israels Pflicht gemäß Vierter Genfer Konvention, die medizinische Versorgung sicherzustellen, auch um die Ausbreitung von Pandemien zu bekämpfen, sich nach mehr als 50 Jahren Besatzung ohne absehbares Ende, verschärft. Hierzu gehört neben den Verpflichtungen aus den internationalen Menschenrechtsnormen auch die nichtdiskriminierende Versorgung unter israelischer Kontrolle lebender Palästinenser mit Impfstoffen. Als Maßstab gilt, was Israel für seine eigenen Bürger bereitstellt. Die Pflichten der palästinensischen Behörden, das Recht auf Gesundheit der Palästinenser in den Gebieten, die sie verwalten, zu schützen, entbinden Israel nicht von dieser Verantwortung.

„Nichts kann die aktuelle Situation in Teilen des Westjordanlandes rechtfertigen, wo Menschen auf der einen Seite der Straße Impfstoffe erhalten, während die auf der anderen Seite keine bekommen, je nachdem, ob sie jüdisch oder palästinensisch sind“, sagte Omar Shakir, Direktor für Israel und Palästina bei Human Rights Watch. „Jeder Mensch innerhalb eines Gebiets sollte den gleichen Zugang zu dem Impfstoff haben, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.“

Die israelischen Behörden hatten bis zum 14. Januar 2021 mehr als 2 Millionen israelische Bürger impfen lassen. Vorrang haben hier Mitarbeiter des Gesundheitswesens, Risikogruppen und Personen über 60 Jahre, von denen die Mehrheit mittlerweile bereits geimpft ist. Die Impfaktion gilt für palästinensische Bürger Israels sowie Bewohner des besetzten Ost-Jerusalem, das Israel 1967 annektiert hat. Premierminister Benjamin Netanjahu sagte, dass die Regierung alle Bürger über 16 Jahre bis Ende März impfen lassen wird. Er erklärte am 7. Januar, dass „wir die gesamte relevante Bevölkerung impfen werden und alle, die sich impfen lassen möchten, können das tun.“

Die „relevante Bevölkerung“ bedeutet in diesem Fall: alle, außer den Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland (außerhalb Ost-Jerusalems). Die israelischen Behörden behaupten, die Verantwortung für die Impfung dieser Menschen liege gemäß des Oslo-Abkommens bei der Palästinensischen Autonomiebehörde. Israels Gesundheitsminister sagte gegenüber Sky News, dass „sie lernen müssen, für sich selbst zu sorgen“ und dass er nicht glaube, „dass es irgendjemanden in diesem Land gibt, egal welche Ansichten er vertritt, der sich vorstellen kann, dass ich den israelischen Bürgern Impfstoff vorenthalte, um ihn, bei allem guten Willen, unseren Nachbarn zu geben.“

Allerdings verpflichtet das Vierte Genfer Abkommen Israel als Besatzungsmacht, die „medizinische Versorgung der [besetzten] Bevölkerung“ sicherzustellen, einschließlich der „Einführung und Anwendung der notwendigen Vorbeugungs‑ und Vorsichtsmaßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten und Epidemien“, und zwar „mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln“. Nach humanitärem Völkerrecht ist Israel nach wie vor die Besatzungsmacht im Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem, und im Gazastreifen. Dies ergibt sich aus dem Ausmaß seiner Kontrolle u.a. über die Grenzen, den Personen- und Warenverkehr, die Sicherheit, die Besteuerung und die Registrierung der Bevölkerung.

Diese Verpflichtung sowie die in Artikel 43 der Haager Beschlüsse von 1907 verankerte völkergewohnheitsrechtliche Forderung, die öffentliche Ordnung und Sicherheit für die besetzte Bevölkerung zu gewährleisten, gewinnt an Gewicht bei einer länger andauernden Besetzung. Unter diesen Umständen sind die Bedürfnisse der besetzten Bevölkerung größer, und die Besatzungsmacht hat mehr Zeit und Gelegenheit, die Verantwortung für den Schutz der Rechte zu übernehmen.

Je länger eine Besatzung dauert, desto mehr sollte sich die Militärherrschaft einem gewöhnlichen Regierungssystem annähern, das die jederzeit geltenden Standards der internationalen Menschenrechtsnormen respektiert. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, den Israel 1991 ratifiziert hat und dem der Staat Palästina 2014 beigetreten ist, verlangt von den Staaten, die notwendigen Maßnahmen zur „Verhütung, Behandlung und Kontrolle von epidemischen, endemischen, berufsbedingten und anderen Krankheiten zu ergreifen“. Das für die Überwachung dieses Vertrages zuständige UN-Gremium hat bestätigt, dass Israel verpflichtet ist, diesen Pakt in den besetzten Gebieten einzuhalten und das Recht auf Gesundheit und andere Rechte der dortigen Bevölkerung zu schützen.

Nach über 53 Jahren Besatzung ist es die Pflicht der israelischen Behörden, die Menschenrechte der Palästinenser in den besetzten Gebieten vollständig zu respektieren, einschließlich ihres Rechts auf Gesundheit, wobei die Rechte, die sie israelischen Bürgern gewähren, als Maßstab gelten sollen, wie Human Rights Watch dargelegt hat. Die Tatsache, dass israelische Bürger, einschließlich der Siedler im Westjordanland, Impfstoffe im Rahmen einer der größten Impfkampagnen weltweit erhalten, zeigt, dass Israel die Möglichkeit hat, die Impfstoffe zumindest einigen Palästinensern in den besetzten Gebieten zur Verfügung zu stellen, sich aber dafür entschieden hat, diese Menschen ungeschützt zu lassen.

Der Oberste Gerichtshof Israels entschied 1991 in einem Fall, dass die Behörden in ihrem Bestreben, alle Israelis mit Gasmasken zu versorgen, angesichts des Risikos eines chemischen Angriffs im Vorfeld des Golfkrieges, „Gleichheit walten lassen“ und nicht zwischen den Bewohnern der Westbank „diskriminieren“ sollten. Das Gericht schrieb: „Wenn der Militärkommandant zu dem Schluss gekommen ist, dass Schutzausrüstungen an die jüdischen Bewohner des Gebietes zu verteilen sind, müssen solche Ausrüstungen auch an die arabischen Bewohner des Gebietes verteilt werden.“

Das Oslo-Abkommen hebt Israels Verpflichtungen nach dem internationalen humanitären Recht und den Menschenrechtsnormen nicht auf, da es weiterhin Besatzungsmacht ist. Die palästinensischen Behörden tragen ebenfalls Verantwortung für die Bewohner in den Teilen des besetzten Gebietes, in denen sie die Angelegenheiten der Menschen verwalten. Angesichts ihrer begrenzten Autorität und ihrer wirtschaftlichen Mittel entbinden ihre Aktivitäten die israelische Regierung jedoch nicht von ihrer Verantwortung. Während die israelische Regierung weiterhin die primäre Kontrolle hat und die palästinensischen Behörden ins Abseits stellt, sollte sie diesen Behörden nicht plötzlich die alleinige Verantwortung übertragen, weil sie ihren Pflichten bezüglich der Gesundheit der Menschen unter der Besatzung nicht nachkommen möchte. Israelische und palästinensische Behörden in den besetzten Gebieten sollten zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass alle Menschen Impfstoffe erhalten, ohne dass hierbei diskriminiert wird.

Darüber hinaus hat die israelische Regierung nach wie vor die alleinige Kontrolle über das C-Gebiet im Westjordanland, das mehr als 60 Prozent des Territoriums umfasst, so dass es keine Rechtfertigung dafür gibt, die dort lebenden Palästinenser nicht zu impfen.

Die Palästinensische Autonomiebehörde meldete bis zum 14. Januar 5.817 aktive Covid-19-Fälle im Westjordanland, ohne Ost-Jerusalem, und über 100.000 Fälle und 1.000 Todesfälle in diesem Gebiet seit Beginn der Pandemie. Die Hamas-Behörden meldeten 7.000 aktive Covid-19-Fälle im Gazastreifen (Stand: 14. Januar) und insgesamt mehr als 45.000 Fälle und 400 Todesfälle.

Die Gesundheitsministerin der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mai Alkaila, sagte am 9. Januar, dass die Palästinensische Autonomiebehörde Vereinbarungen mit mehreren Unternehmen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) getroffen hat, um einen ausreichenden Vorrat an Impfstoffen zu beschaffen. Ziel ist, die Mehrheit der Palästinenser in den besetzten Gebieten zu versorgen, es gäbe aber „kein konkretes Datum“ für die Ankunft der ersten Dosen gibt.

Das Außenministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde hat die internationale Gemeinschaft aufgefordert, Druck auf Israel auszuüben, damit es den Palästinensern in den besetzten Gebieten Impfstoffe zur Verfügung stellt. Es betonte, dass die Bemühungen der Palästinensischen Autonomiebehörde, Impfstoffe zu beschaffen, Israel nicht von seiner Verantwortung unter dem Besatzungsrecht entbinden. Die israelischen Behörden sagten in einer Einlassung vom 12. Januar an den Obersten Gerichtshof Israels, dass sie der Palästinensischen Autonomiebehörde 100 Impfdosen als Antwort auf eine entsprechende Anfrage zur Verfügung gestellt hätten und planten, eine weitere Lieferung zu schicken. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat jedoch dementiert, irgendeine Menge an Impfstoffen von Israel erhalten zu haben. In jedem Fall wären 100 Impfstoffdosen ohnehin nur ein Bruchteil der mehr als 2 Millionen Dosen, mit denen Israel bereits israelische Bürger versorgt hat.

Die Einlassung war eine Reaktion auf eine Klage der Familie eines israelischen Soldaten, dessen Leichnam von den Hamas-Behörden im Gazastreifen festgehalten wird. Die Klage zielt darauf ab, die israelischen Behörden zu verpflichten, Impfstoffe für den Gazastreifen zurückzuhalten, bis der Leichnam freigegeben wird. Die israelischen Behörden haben, laut unbestätigter Berichte in israelischen Medien, die Lieferung von Impfstoffen an den Gazastreifen an die Freigabe des Leichnams des Soldaten sowie zweier israelischer Zivilisten und des Leichnams eines weiteren Soldaten, der offenbar von den Hamas-Behörden dort festgehalten wird, geknüpft. Die Hamas-Behörden sollten die Zivilisten sofort freilassen und die Leichen der Soldaten freigeben. Die israelischen Behörden sollten die Impfstoffe jedoch nicht als Druckmittel einsetzen, so Human Rights Watch. Das Leben der palästinensischen Bewohner des Gazastreifens sollte nicht aufgrund des Verhaltens der Hamas-Behörden aufs Spiel gesetzt werden, zumal sie deren Verhalten nur wenig, wenn überhaupt, beeinflussen können.

Die britische Zeitung The Independent berichtete am 8. Januar, dass die israelischen Behörden informelle Anfragen der WHO und der Palästinensischen Autonomiebehörde abgelehnt hätten, Impfdosen für palästinensisches Gesundheitspersonal zur Verfügung zu stellen. Israel selbst bestreitet, solche Anfragen erhalten zu haben.

„Das Virus diskriminiert nicht dabei, wen es infiziert, aber die israelische Regierung diskriminiert dabei, wen sie gegen das Virus impfen will“, so Shakir.

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