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Ein Zeuge sagt aus vor dem Gericht in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch
  1. Wer sind Anwar R. und Eyad A.?
  2. Wie lauten die Anklagepunkte gegen die beiden Angeklagten?
  3. Sind die Vorwürfe gegen die Angeklagten repräsentativ für die in Syrien begangenen Verbrechen?
  4. Wie wurden die deutschen Behörden konkret auf die Vorwürfe gegen Anwar R. und Eyad A. aufmerksam?
  5. Welche Rechte haben die Angeklagten während des Prozesses, und wurden sie während des Prozesses inhaftiert?  
  6. Was hatten Anwar R. und Eyad A. zu ihrer Verteidigung zu sagen?  
  7. Können die Urteile angefochten werden?
  8. Was ist die universelle Gerichtsbarkeit und wie funktioniert sie in Deutschland?
  9. Wie sind die deutschen Behörden dazu gekommen, schwere Verbrechen in Syrien zu untersuchen?
  10. Warum untersucht der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) keine schweren Verbrechen in Syrien?
  11. Wie werden die Opfer in den Prozess mit einbezogen?
  12. Was hat der Prozess über Folter in der Abteilung 251 enthüllt?
  13. Welche Rolle spielten die Caesar-Fotos in dem Prozess?
  14. Welche Herausforderungen gab es für die Zeug*innen im Prozess?
  15. Haben die deutschen Behörden den Prozess zugänglich gemacht für betroffene Gemeinden und die Öffentlichkeit?
  16. Informieren die deutschen Justizbehörden über den Prozess?
  17. Gibt es weitere Verfahren in Deutschland gegen syrische Beamte oder andere Parteien des Syrien-Konflikts, die verantwortlich für schwere Verbrechen sind?  
  18. Könnte der syrische Staatschef Bashar al-Assad oder andere hochrangige Regierungsbeamte im Rahmen der universellen Gerichtsbarkeit strafrechtlich verfolgt werden?
  19. Gibt es andere Möglichkeiten, die Verantwortlichen für schwere Verbrechen in Syrien zur Rechenschaft zu ziehen?

Im April 2020 begann vor dem Oberlandesgericht Koblenz der Prozess gegen Anwar R. und Eyad A., beide mutmaßliche ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt waren. Dieser Prozess, der erste weltweit wegen staatlicher Folter in Syrien, ist ein Wendepunkt für Folterüberlebende und die internationale Justiz. Der Prozess bietet einen Einblick in die Geschehnisse in Syrien zwischen 2011 und 2012 und den Opfern eine sonst kaum erreichbare Chance, zumindest ein wenig Gerechtigkeit zu erfahren.

Human Rights Watch hat den Prozess mit Hilfe des Frankfurter Büros der Anwaltskanzlei Clifford Chance von Anfang an vor Ort verfolgt. Dieses Frage-Antwort-Dokument liefert Hintergrundinformationen über den Prozess, die Angeklagten und die allgemeinen Bemühungen Deutschlands, schwere Verbrechen nach internationalem Recht vor deutschen Gerichten zu untersuchen und zu verfolgen. Der Prozess ist aufgrund der deutschen Gesetze zur universellen Gerichtsbarkeit möglich, die die Ermittlung und Verfolgung bestimmter schwerer Verbrechen unabhängig vom Tatort und der Staatsangehörigkeit der Verdächtigen oder Opfer ermöglichen.

  1. Wer sind Anwar R. und Eyad A.? 
    Der Angeklagte Anwar R. macht sich Notizen im Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

Anwar R. ist mutmaßlich ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des syrischen General Intelligence Directorate, einem der vier wichtigsten Geheimdienste des Landes, der gemeinhin als Mukhabarat bezeichnet wird.

Anwar R. ist der ranghöchste mutmaßliche ehemalige syrische Regierungsbeamte, der in Europa wegen schwerer Verbrechen in Syrien vor Gericht steht, obwohl er als Oberst im Gesamtkontext der syrischen Geheimdienste als relativ rangniedriger Beamter gelten würde. Die deutsche Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, in seiner mutmaßlichen Eigenschaft als Leiter der Ermittlungsabteilung der Haftanstalt al-Khatib des Generalgeheimdienstes in Damaskus, auch bekannt als „Abteilung 251“, die Folter von Gefangenen beaufsichtigt zu haben. Das Urteil gegen Anwar R. wird voraussichtlich im Januar 2022 gesprochen.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft und mehrerer Zeug*innen war Anwar R. ein gelernter Rechtsanwalt, der in den 1990er Jahren dem Geheimdienst beitrat und für die „Abteilung 285“, eine weitere Haftanstalt der Geheimdienstdirektion, arbeitete. Aus den im Prozess vorgelegten Beweisen geht hervor, dass er im Januar 2011 Leiter der Ermittlungsabteilung (Abteilung 251) wurde. Anwar R. leugnet nicht, für den syrischen Geheimdienst gearbeitet zu haben, bestreitet aber, jemals Folter beaufsichtigt zu haben, während er dort tätig war.

Eyad A. stand rangmäßig unter Anwar R. und wurde am 24. Februar 2021 wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer Haftstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Verteidiger von Eyad A. haben gegen das Urteil Revision eingelegt. Diese ist noch anhängig. Das Gericht stellte fest, dass Eyad A. in der Abteilung 40, einer Unterabteilung der Abteilung 251, beschäftigt war, die die Ermittlungseinheit unterstützte, die Anwar R. geleitet haben soll.

Das Gericht stellte fest, dass Eyad A. 16 Jahre lang, vom 10. Juli 1996 bis zum 5. Januar 2012, für den syrischen Inlandsgeheimdienst arbeitete. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass er im September/Oktober 2011 bei der Verschleppung von 30 Demonstrant*innen in Douma zur Abteilung 251 half, wo sie dann gefoltert wurden. In ihren Schlussplädoyers forderten seine Anwälte einen Freispruch und machten geltend, dass ihr Mandant keine Möglichkeit hatte, seinen Posten früher zu verlassen, ohne sein Leben und das seiner Familie zu riskieren, und somit aus der Not heraus gehandelt habe.

Nach Informationen, die den deutschen Behörden vorliegen, sind die Männer 2012 von der syrischen Regierung übergelaufen. Die deutschen Behörden gaben an, dass Anwar R. und Eyad A. im Juli 2014 bzw. im April 2018 als Asylsuchende nach Deutschland eingereist sind.

  1. Wie lauten die Anklagepunkte gegen die beiden Angeklagten? 
    Der Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch
    Der Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

Die Staatsanwaltschaft wirft Anwar R. vor, zwischen April 2011 und Anfang September 2012 die Folter von mindestens 4.000 Menschen bei Verhören, 58 Tötungen, Freiheitsberaubung und Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung in der Abteilung 251 beaufsichtigt zu haben. Auf Antrag von Opferanwält*innen wurden die Fälle sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und nicht als Einzeltaten nach deutschem Strafrecht angeklagt.  

Im Juli 2021 unterstützten die Opferanwält*innen des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) einen zweiten Antrag an das Gericht, die Anklage gegen Anwar R. um den Straftatbestand des Verschwindenlassens zu erweitern.

Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Schlussplädoyer am 2. Dezember 2021 eine lebenslange Freiheitsstrafe beantragt. In Deutschland bedeutet eine lebenslange Freiheitsstrafe einen Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit mit der Möglichkeit die Strafe nach 15 Jahren auf Bewährung auszusetzen.

Im Fall von Eyad A. warf ihm die Staatsanwaltschaft vor, 2011 30 Demonstrant*innen festgenommen und an die Abteilung 251 übergeben zu haben, wo sie gefoltert wurden. Eyad A. wurde wegen Beihilfe zu schweren Straftaten angeklagt, während gegen Anwar R. wegen unmittelbarer Täterschaft ermittelt wurde.

In den Verfahren gegen Anwar R. und Eyad A. geht es um Verbrechen, die in der Abteilung 251, auch als „al-Khatib“-Gefängnis bezeichnet, in Damaskus begangen wurden. Laut Zeugenaussagen während des Prozesses handelt es sich bei dem Gefängnis um einen Komplex mit zwei Gebäuden, der sowohl Gefängniszellen als auch Vernehmungsräume umfasst. Recherchen von Human Rights Watch aus dem Jahr 2012 haben vier Fälle von Folter und Misshandlung in der Abteilung 251 dokumentiert.

  1. Sind die Vorwürfe gegen die Angeklagten repräsentativ für die in Syrien begangenen Verbrechen? 

Seit Beginn der regierungskritischen Proteste im März 2011 haben die syrischen Behörden Zehntausende von Menschen willkürlich festgenommen, unrechtmäßig inhaftiert, gewaltsam verschwinden lassen und gefoltert. Die schlimmsten Misshandlungen und Folterungen fanden in einem weitreichenden Netz von Hafteinrichtungen statt, die unter der Kontrolle der Geheimdienste der syrischen Regierung stehen.

Die syrische Regierung hält weiterhin Zehntausende von Menschen gefangen und lässt sie gewaltsam verschwinden. Ihre Familien erfahren selten, wo ihre Angehörigen festgehalten werden oder ob sie noch am Leben sind. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR) sind nach wie vor mindestens 100.000 Syrer*innen verschwunden. Das Netzwerk schätzt außerdem, dass seit März 2011 fast 15 000 Menschen zu Tode gefoltert wurden, die meisten von ihnen durch syrische Regierungstruppen.

  1. Wie wurden die deutschen Behörden konkret auf die Vorwürfe gegen Anwar R. und Eyad A. aufmerksam? 
    Staatsanwalt Jasper Klinge im Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 17. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

Die Aussagen von Anwar R. und Eyad A. gegenüber den deutschen Behörden lösten die Ermittlungen gegen sie aus.

In der Regel sind die deutschen Migrationsbehörden (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF) eine der ersten Anlaufstellen für syrische Asylbewerber*innen, die im Land ankommen, und die ersten, die mit ihnen Gespräche führen. Daher sind sie oft die ersten, die Informationen darüber erhalten, ob syrische Asylsuchende Zeug*innen schwerer Straftaten geworden sind. Das deutsche Strafprozess- und Asylrecht regelt den Informationsaustausch zwischen der Migrationsbehörde und der Polizei.

Stoßen Sachbearbeiter*innen im Rahmen einer Asylanhörung auf Informationen, die für Verbrechen nach dem  Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) relevant sind, leiten sie diese an eine spezielle Abteilung des BAMF weiter. Das VStGB definiert Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Übereinstimmung mit dem Vertrag des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und enthält auch Bestimmungen zur Befehlsverantwortung und anderen Formen der Haftung. Die Abteilung gibt diese Informationen an die Bundeskriminalpolizei weiter, die sie analysiert und gegebenenfalls spezifische Nachforschungen anstellt, bevor sie den Fall zur weiteren Bearbeitung an die Abteilung zur Verfolgung von Kriegsverbrechen weiterleitet.

So geschehen im Fall von Eyad A. Nach Angaben von Mitarbeitenden der Asylbehörde und polizeilichen Ermittler*innen die in Koblenz aussagten, gab Eyad A. bei seiner Anhörung im Asylverfahren seine Tätigkeit beim Geheimdienst an, behauptete aber zunächst im Mai 2018, lediglich Zeuge von gewaltsamen Übergriffen auf Demonstrant*innen gewesen zu sein. Bei einer polizeilichen Vernehmung im August 2018 räumte er jedoch seine Beteiligung an der Verhaftung von 30 Demonstrant*innen in Douma und an deren Verbringung in das Gefängnis der Abteilung 251 ein. Er gab zudem an, Zeuge ihrer Misshandlung gewesen zu sein. Diese Aussagen lösten eine polizeiliche Untersuchung aus.

Was Anwar R. betrifft, so sagten Polizeiermittler*innen aus, dass er bei einer Berliner Polizeidienststelle Strafanzeige erstattete und angab, er habe sich 2015 von Mitgliedern des syrischen Geheimdienstes verfolgt gefühlt. Er machte Angaben zu seiner Tätigkeit als Oberst im syrischen Generalgeheimdienstdirektorat. Aufgrund dieser Informationen nahm die Bundespolizei Kontakt zu den Strafverfolgungsbehörden auf, um Ermittlungen einzuleiten.

Im Februar 2019 erließ der Bundesgerichtshof Haftbefehl gegen die Beschuldigten. Sie wurden fünf Tage später festgenommen und in Untersuchungshaft genommen.

Zeugenaussagen, die vom ECCHR, dem Syria Justice and Accountability Center (SJAC), dem Syrian Center for Media and Freedom of Expression und anderen Nichtregierungsorganisationen unterstützt wurden, trugen ebenfalls zu den Haftbefehlen gegen Anwar R. und Eyad A. bei.

Als im März 2019 Beweise vorlagen, die Eyad A. mit einer Unterabteilung der Abteilung 251 in Verbindung brachten, verbanden die Strafverfolgungsbehörden die Ermittlungen gegen ihn mit denen gegen Anwar R. auf der Grundlage der Aussage eines Polizeibeamten. Nach Angaben der Polizeiermittler*innen befragten sie über 70 Zeug*innen, darunter ehemalige Häftlinge der Abteilungen 285 und 251.

  1. Welche Rechte haben die Angeklagten während des Prozesses, und wurden sie während des Prozesses inhaftiert?

Angeklagte in deutschen Strafverfahren haben Rechte, um ein faires Verfahren zu gewährleisten. Dazu gehören (i) das Recht, vor Gericht gehört zu werden; (ii) das Recht, in jedem Stadium des Verfahrens einen Verteidiger zu wählen; (iii) das Recht, bei der Hauptverhandlung anwesend zu sein; (iv) das Recht, Beweisanträge zu stellen; (v) das Recht, Zeugen und Sachverständige zu laden; (vi) das Recht, Fragen an Zeugen und Sachverständige zu stellen; (vii) das Recht, Rechtsmittel einzulegen; (viii) das Recht, kostenlos einen Dolmetscher hinzuzuziehen, wenn der Beschuldigte die deutsche Sprache nicht oder nicht gut genug beherrscht; und (ix) das Recht zu schweigen.

Anwar R. und Eyad A. werden jeweils von einem Pflichtverteidiger und einem selbst gewählten Verteidiger vertreten. Die Pflichtverteidiger werden vom Gericht bestellt. Die Anwälte der Angeklagten sind erfahrene Spezialisten für Strafrecht und Strafverfahren.

Anwar R. und Eyad A. verbrachten 15 Monate in Untersuchungshaft, bevor der Prozess am 23. April 2021 begann. Anwar R. saß während des Prozesses in einem Gefängnis in Koblenz in Haft, während Eyad A. in einem Gefängnis in Dietz, in der Nähe von Koblenz, inhaftiert war.

  1. Was hatten Anwar R. und Eyad A. zu ihrer Verteidigung zu sagen?

Als Angeklagte sind Anwar R. und Eyad. A. verpflichtet, an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Nach deutschem Recht haben Angeklagte jedoch das Recht, während des gesamten Strafverfahrens zu schweigen. Keiner der beiden Angeklagten hat sich direkt gegenüber dem Gericht mündlich geäußert. Anwar R. bestritt alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe in einem Schreiben, das von seinen Anwälten zu Beginn des Prozesses verlesen wurde, berichten Prozessbeobachter*innen von Human Rights Watch. Darin erklärte er, dass er nie in irgendeine Form von Folter in der Abteilung 251 verwickelt war und wies jegliche Verantwortung für die Misshandlungen dort zurück. Anwar R. äußerte sich zu den Aussagen einiger Prozesszeug*innen und behauptete entweder, sie nicht zu kennen, oder bestritt, dass sie misshandelt wurden.

Eyad A. behauptete in einem Schreiben, das ebenfalls von seinem Anwalt verlesen wurde, dass er aufgrund des Sicherheitsrisikos für seine Familie keine andere Wahl hatte, als diese Verbrechen zu begehen. Laut Prozessbeobachtung von Human Rights Watch erklärte er in dem Schreiben vom Dezember 2020, dass die Caesar-Fotos, die von der Staatsanwaltschaft als Beweismittel vorgelegt wurden, ihn emotional aufgewühlt hätten. Viele der 53.275 Caesar-Fotos, die von einem Überläufer herausgeschmuggelt wurden, zeigen die Leichen von Gefangenen, die in den syrischen Haftanstalten gestorben sind. Eyad A. betonte, dass er sich trotz der Gefahr für ihn frühzeitig von den Geheimdiensten abgesetzt habe.

Die Verteidiger von Eyad A. fochten die Zulässigkeit aller seiner Aussagen an, die er vor der Verhandlung gegenüber Polizeiermittler*innen gemacht hatte. Sie machten geltend, dass die Ermittlungsbeamt*innen Eyad A. nicht ordnungsgemäß über seine Rechte als Verdächtiger belehrt hatten, insbesondere über sein Recht, sich bei seiner Vernehmung im Jahr 2018 nicht selbst zu belasten. Der Bundesgerichtshof entschied daraufhin, dass Teile der Aussagen von Eyad A. zulässig waren, so dass sich das Gericht auf diese Aussagen stützen konnte.

  1. Können die Urteile angefochten werden?

Ja. Nach deutschem Recht können sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Rechtsmittel gegen Urteile einlegen. Über die Revisionen entscheidet der Bundesgerichtshof. Die Verteidiger von Eyad A. legten Revision gegen das Urteil ein. Die Staatsanwaltschaft hat keine Revision eingelegt, obwohl sie beim Gericht eine längere Strafe beantragt hatte. Die Revision der Verteidigung ist noch anhängig.

  1. Was ist die universelle Gerichtsbarkeit und wie funktioniert sie in Deutschland? 
    Die vorsitzende Richterin Anne Kerber im Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

Die universelle Gerichtsbarkeit bezieht sich auf rechtliche Rahmenbedingungen, die es nationalen Justizsystemen ermöglichen, bestimmte Straftaten zu untersuchen und zu verfolgen, auch wenn sie nicht auf dem Hoheitsgebiet des Landes, von einem/einer seiner Staatsangehörigen oder gegen eine/einen seiner Staatsangehörigen begangen wurden.

Einige europäische Länder, darunter Deutschland, Frankreich und Schweden, nutzen die Gesetze zur universellen Gerichtsbarkeit, um Vorwürfe bezüglich schwerer Verbrechen in Syrien zu untersuchen. Obwohl es grundsätzlich vorzuziehen ist, dass die Justiz in den Ländern, in denen die Verbrechen begangen wurden, tätig wird, ist dies oft nicht möglich. Die universelle Gerichtsbarkeit verringert die Zahl der „sicheren Häfen“, in denen Verantwortliche für diese Verbrechen Straffreiheit genießen, und setzt ein deutliches Zeichen für die Art und Schwere der zugrunde liegenden Verbrechen.

Nach dem VStGB können die deutschen Behörden bei schweren internationalen Straftaten, die im Ausland begangen wurden, auch dann ermitteln und diese verfolgen, wenn diese Straftaten keinen spezifischen Bezug zu Deutschland haben. Die Ermittlungen in diesen Fällen können auch dann fortgesetzt werden, wenn sich der/die Verdächtige nicht auf deutschem Hoheitsgebiet befindet oder dort einen Wohnsitz hat. Die Generalbundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt sind für die Ermittlung und Verfolgung schwerer Straftaten nach dem VStGB zuständig.

Diese Form der „reinen“ universellen Zuständigkeit wird jedoch durch bestimmte Verfahrensbeschränkungen abgeschwächt. So liegt es beispielsweise im Ermessen der Staatsanwaltschaft, keine Ermittlungen wegen VStGB-Verbrechen einzuleiten, wenn sich kein Verdächtiger in Deutschland aufhält oder ein Aufenthalt in Deutschland zu erwarten ist.

Die Prozesse werden vor den Oberlandesgerichten geführt. Die deutschen Oberlandesgerichte befassen sich mit Berufungen von Gerichten der unteren Instanzen und mit so genannten „Staatsschutzangelegenheiten“, die sich auf schwere Straftaten beziehen, die im VStGB kodifiziert sind. Die Kammern, die für solche Fälle zuständig sind, sind mit fünf Richter*innen besetzt. Die Gerichtssprache ist Deutsch. Die Angeklagten haben das Recht auf Übersetzung, damit sie dem Verfahren folgen können. Gegen die Entscheidungen des Oberlandesgerichts kann Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt werden.

Neben Syrien haben deutsche Gerichte Fälle auf der Grundlage der universellen Gerichtsbarkeit (manchmal zusammen mit anderen Zuständigkeitsgrundlagen) in Bezug auf mutmaßliche Verbrechen im Irak, in Sri Lanka und Ruanda verhandelt.

  1.  Wie sind die deutschen Behörden dazu gekommen, schwere Verbrechen in Syrien zu untersuchen? 
    Staatsanwältin Claudia Polz im Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 17. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

Die deutschen Behörden waren die ersten in Europa, die eine „Strukturermittlung“ im Zusammenhang mit Syrien eingeleitet haben. Hierbei handelt es sich um breit angelegte Vorermittlungen, die sich nicht gegen bestimmte Personen richten, sondern versuchen, Straftaten, die in einem bestimmten Land begangen wurden, zu katalogisieren, Einzelheiten darüber zu sammeln und Opfer und Zeug*innen in Deutschland für künftige Strafverfahren zu identifizieren. Im Jahr 2017 befragten deutsche Staatsanwält*innen fast 200 Zeug*innen in den beiden Strukturermittlungen zu Syrien.

Die erste Strukturermittlung, die im September 2011 eingeleitet wurde, befasst sich mit Verbrechen, die von verschiedenen Parteien des Syrienkonflikts begangen wurden, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf den „Caesar-Fotos“ liegt. Die zweite Strukturermittlung, die im August 2014 eingeleitet wurde, befasst sich mit Verbrechen, die vom IS sowohl in Syrien als auch im Irak begangen wurden, wobei der Schwerpunkt auf dem Angriff des IS auf die jesidische Minderheit im irakischen Sinjar im August 2014 liegt.

  1. Warum untersucht der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) keine schweren Verbrechen in Syrien?

Der IStGH kann keine in Syrien begangenen Verbrechen untersuchen, da ihm die Zuständigkeit fehlt. Syrien ist kein Mitgliedstaat des Römischen Statuts, des Vertrags, mit dem der IStGH gegründet wurde. Solange die syrische Regierung den Vertrag nicht ratifiziert oder die Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht durch eine Erklärung anerkennt, könnte der IStGH nur dann tätig werden, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Situation in Syrien an den Gerichtshof verweist. Der Sicherheitsrat könnte mit einer so genannten „IStGH-Überweisung“ dem Gericht die Zuständigkeit übertragen, die bis zum Tag des Inkrafttretens des Römischen Statuts am 1. Juli 2002 zurückreicht. Theoretisch wäre der IStGH für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig, die von Staatsangehörigen der IStGH-Vertragsstaaten überall auf der Welt begangen werden; dies würde jedoch nicht für syrische Staatsangehörige gelten.

Im Jahr 2014 blockierten Russland und China die Bemühungen im UN-Sicherheitsrat, dem IStGH ein Mandat für schwere Verbrechen in Syrien zu erteilen. Zwei Jahre später reagierten die UN-Mitgliedsländer mit der Einrichtung eines neuen internationalen Mechanismus, der Beweise für schwere Verbrechen für künftige Strafverfolgungen sammeln, analysieren und sichern soll. Die Generalversammlung schuf diesen Mechanismus, den Internationalen, unparteiischen und unabhängigen Mechanismus (IIIM), in einer beispiellosen Resolution im Dezember. Die Arbeit des Mechanismus wird zusammen mit anderen Dokumentationsbemühungen von entscheidender Bedeutung für künftige Rechenschaftsprozesse in Deutschland und anderswo sein. Laut Polizeiermittler*innen ist der Prozess in Koblenz einer der Fälle, die aus diesen gemeinsamen Bemühungen hervorgegangen sind.

  1. Wie werden die Opfer in den Prozess mit einbezogen?

Mindestens 17 Überlebende schlossen sich dem Verfahren gegen Anwar R. als so genannte „Nebenkläger“ an. In dem Verfahren gegen Eyad A. gab es keine Nebenkläger.

Nach deutschem Recht kann ein Opfer der im Prozess angeklagten Straftaten oder ein Familienangehöriger eines getöteten Opfers einem Strafverfahren als Nebenkläger beitreten und damit förmlich Partei des Verfahrens werden. Nebenkläger spielen eine wichtige Rolle im Verfahren. Nebenkläger und ihre Anwält*innen können bei der Verhandlung anwesend sein und haben das Recht,: (i) Informationen über den Stand des Verfahrens anzufordern; (ii) Erklärungen vor Gericht abzugeben; (iii) Akteneinsicht zu nehmen; (iv) die Aufnahme weiterer Beweise zu beantragen; und (v) Fragen an Zeugen und Sachverständige zu stellen.

Nebenkläger müssen aussagen und haben auch das Recht, während des Prozesses Erklärungen abzugeben. Die Nebenkläger im Koblenzer Prozess werden von sieben Rechtsanwält*innen vertreten.

Überlebende und Familien, deren Angehörige in Syrien Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen wurden, haben rund um den Prozess zahlreiche Veranstaltungen organisiert, um auf sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt in Syrien und die gewaltsam Verschwundenen aufmerksam zu machen. Seit Beginn des Syrienkonflikts im März 2011 ist sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt in Haftanstalten allgegenwärtig.

Zu Beginn des Prozesses wurde Anwar R. wegen zweier Einzelfälle von Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung angeklagt. Das Gericht aktualisierte die Anklage und stufte diese Taten im März 2021 rechtlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein, nachdem zwei Anwälte der Opfer einen Antrag auf Anpassung der Anklage gestellt hatten, da die Anklagen den systematischen Charakter der sexuellen und geschlechtsspezifischen Gewalt widerspiegeln sollten, um der Schwere der Verbrechen Rechnung zu tragen.

Darüber hinaus haben mehrere syrische Aktivist*innen, Künstler*innen und Asylsuchende den Prozess verfolgt. Families for Freedom, eine Organisation, die sich dem Gedenken an die gewaltsam Verschwundenen widmet, nutzte den Prozess als Gelegenheit, um auf die anhaltende Notlage der Inhaftierten und Verschwundenen hinzuweisen. Mitglieder der Organisation stellten zu Beginn des Prozesses mehrere Fotos ihrer vermissten Familienmitglieder vor dem Gerichtsgebäude auf und hielten dort regelmäßig Mahnwachen ab.

  1.  Was hat der Prozess über Folter in der Abteilung 251 enthüllt?

Die Aussagen von Zeug*innen, die angaben, in der Abteilung 251 festgehalten worden zu sein, zeigten, dass sie nach ihrer Verhaftung durch Sicherheitskräfte in Syrien ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. In über 30 Zeugenaussagen berichteten viele, dass ihnen zu Beginn die Augen verbunden wurden und sie auf dem Weg zur Abteilung 251 mit verschiedenen Gegenständen geschlagen wurden.

Nach Angaben des Koblenzer Gerichts wurden die verhafteten Demonstrant*innen bei ihrer Ankunft in der Abteilung 251 einer „Willkommensparty“ unterzogen, bei der sie von den Wachleuten mit Fäusten, Stöcken, Kabeln und Metallrohren geschlagen wurden. Das Gericht stellte fest, dass die Wachen sie auch traten und ihre Köpfe gegen die Wand schlugen, bis einige das Bewusstsein verloren. Einige Zeug*innen berichteten dem Gericht, dass sie aufgefordert wurden, sich vor mehreren Wachleuten auszuziehen und nackt zu bleiben. Andere sagten aus, dass ihnen während der Verhöre die Augen verbunden wurden.

Sie wurden in überfüllte und heruntergekommene Zellen mit verletzten und hungernden Menschen gebracht. Viele berichteten, dass sie Schreie hörten, als sie von den Räumen in ihren Zellen gebracht wurden. Mehrere Zeug*innen sagten aus, dass sie keine Informationen darüber erhielten, warum sie festgehalten wurden.

Die Zeug*innen sagten ferner aus, in der Abteilung 251 verschiedene Arten von Folter erlebt zu haben. Dazu gehörten gut dokumentierte Folterpraktiken, bei denen die syrischen Behörden die Opfer zwangen, sich in der Taille zu beugen und den Kopf, den Hals, die Beine und manchmal auch die Arme in das Innere eines Autoreifens zu stecken und sie dann schlagen („Dulab“) oder das Opfer mit Stöcken, Schlagstöcken oder Peitschen auf die Fußsohlen schlugen („Falaqa“).

  1.  Welche Rolle spielten die Caesar-Fotos in dem Prozess? 
    Ein Zeuge sagt aus vor dem Gericht in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

Die Fotos, die von einem Überläufer mit dem Codenamen Caesar aus Syrien herausgeschmuggelt wurden, wurden offenbar im Rahmen einer bürokratischen Anstrengung des syrischen Sicherheitsapparats aufgenommen, um ein fotografisches Verzeichnis der Tausenden zu führen, die seit 2011 in Haft gestorben waren, sowie der Mitglieder der Sicherheitskräfte, die bei Angriffen bewaffneter Oppositionsgruppen ums Leben kamen.

Im Koblenzer Prozess wertete ein Gerichtsmediziner fast 27.000 Bilder von 6.821 Personen aus. Anhand des körperlichen Zustands der Opfer sagte der Sachverständige zur Todesursache aus und darüber, ob die Aussagen der Opfer gegenüber den Ermittler*innen über die Folter mit den gerichtsmedizinischen Befunden übereinstimmten.

Im Oktober 2020 sagte die französische Journalistin und Autorin Garance Le Caisne in dem Prozess über ihre Begegnungen mit Caesar aus. Es wird angenommen, dass sie die einzige Journalistin ist, der es gelungen ist, mit dem anonymen Überläufer Kontakt aufzunehmen.

  1.  Welche Herausforderungen gab es für die Zeug*innen im Prozess?

Mehr als 80 Zeug*innen haben in diesem Fall bereits ausgesagt.

Eine der größten Herausforderungen bei diesem Prozess ist der Zeugenschutz. Mehrere Zeug*innen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern haben ihre Anhörung vor Gericht aus Angst um ihr Leben und ihre Sicherheit oder die ihrer Familie abgesagt. Andere Zeug*innen, von denen einige auch Opfer waren, sagten aus, dass sie aufgrund ihrer Rolle in dem Prozess eine Gefährdung für sich und ihre Familien befürchteten. Ein Zeuge gab an, dass syrische Geheimdienstmitarbeitende seine Familie in Syrien aufsuchten und bedrohten, bevor er in Koblenz ausgesagt hatte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Prozesses wurden Namen von Zeug*innen an die Presse weitergegeben. Hierzu wird derzeit ermittelt.

Das deutsche Recht sieht mehrere Maßnahmen zum Schutz der Identität von Zeug*innen vor, darunter: (i) Ausschluss des Angeklagten und der Öffentlichkeit während der Vernehmung; (ii) Zeugenaussagen aus der Ferne per Video; und (iii) anonymes Erscheinen des Zeugen, wobei Name und Adresse verschwiegen und sogar das Aussehen des Zeugen verändert werden können.

Trotz der von den Zeug*innen im Prozess geäußerten Risiken und der Entscheidung vieler, nicht auszusagen, wurden diese Maßnahmen in der Verhandlung größtenteils nicht angewandt.

  1.  Haben die deutschen Behörden den Prozess für Betroffene und die Öffentlichkeit zugänglich gemacht? 
    Besucher*innen im Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch
    Ein Übersetzer im Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

Es ist wichtig, dass Recht nicht nur gesprochen wird. Es muss auch sichtbar sein. Ein Haupthindernis für die Zugänglichkeit des Prozesses ist die fehlende Übersetzung. Der Prozess findet in deutscher Sprache statt. Die von den Verbrechen betroffenen Personen sind größtenteils arabischsprachig. Obwohl viele der interessierten arabischsprachigen Menschen auch über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügen, ist es nicht einfach, dem Verfahren zu folgen, insbesondere aufgrund der juristischen Fachsprache und der Geschwindigkeit der Gespräche im Gerichtssaal.

Von Beginn des Prozesses bis August 2020 wurde das Verfahren nur für die offiziellen Prozessbeteiligten, einschließlich der Nebenkläger*innen, ins Arabische übersetzt. Nach einer Petition, unterstützt durch das ECCHR und des SJAC, in der argumentiert wurde, dass die fehlende Übersetzung das Recht arabischsprachiger Journalist*innen verletze, den Prozessverlauf gleichberechtigt zu verfolgen, erließ das Bundesverfassungsgericht im August 2020 eine einstweilige Anordnung, welche die Übersetzung auf vorab akkreditierte arabischsprachige Journalist*innen ausweitete. Für die Zuschauertribüne gibt es jedoch keine Übersetzung ins Arabische, was es für die betroffenen Gemeinschaften sehr schwierig macht, am Prozess teilzunehmen und ihm zu folgen. Somit bleibt die Verhandlung für nicht-deutschsprachige Beobachter*innen im Saal unzugänglich.

Obwohl Journalist*innen nun das Recht haben, Übersetzungsgeräte zu benutzen, brachte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur eine begrenzte Erleichterung für arabischsprachige Medien, da nur wenige arabischsprachige Journalist*innen akkreditiert sind und somit einen Anspruch geltend machen konnten. Informationen über das Akkreditierungsverfahren waren zu Beginn des Prozesses nur in deutscher Sprache verfügbar. Die Akkreditierungsfrist ist verstrichen, und das Gericht lässt keine nachträgliche Akkreditierung zu.

Obwohl das Gericht am Tag der Urteilsverkündung im Verfahren gegen Eyad A. eine Übersetzung vom Deutschen ins Arabische für die Anwesenden zuließ, wird das schriftliche Urteil selbst nur auf Deutsch vorliegen.

Der Prozess wird nicht gestreamt und ist auch nicht online abrufbar. Deutsche Gerichte stellen keine Abschriften von Gerichtsverhandlungen zur Verfügung. Das deutsche Recht erlaubt in bestimmten Fällen die Aufzeichnung von Gerichtsverhandlungen zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken, wenn das Verfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für Deutschland ist. Das Gericht lehnte jedoch zunächst den Vorschlag ab, die Verhandlung durch akademische Einrichtungen aufzeichnen zu lassen, und begründete dies mit Bedenken hinsichtlich des Zeugenschutzes. Nach Ansicht des Gerichts würde eine Tonaufzeichnung der Zeugenaussagen die Zeug*innen davon abhalten, auszusagen.

Die pauschale Ablehnung des Antrags auf Tonaufzeichnung wird der Komplexität und Bedeutung des Prozesses nicht gerecht. Obwohl die Sicherheit der Zeug*innen oberste Priorität hat, hätte das Gericht einen anderen Standpunkt einnehmen und die Aufzeichnung einiger Zeugenaussagen zulassen können, sofern dies die Zeug*innen nicht gefährdet oder sie von ihrer Aussage abgehalten hätte.

Das ECCHR, Human Rights Watch und mehrere Nichtregierungsorganisationen und Akademiker*innen unternahmen im Juli 2021 einen zweiten Versuch, eine Tonaufnahme der Schlussplädoyers zu erhalten. Das Gericht lehnte den Antrag ab.

Nichtregierungsgruppen und Journalist*innen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Inhalte des Prozesses aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Organisationen wie das ECCHR oder SJAC veröffentlichen Berichte von jedem Prozesstag.

  1.  Informieren die deutschen Justizbehörden über den Prozess? 
    Besucher*innen im Gerichtssaal in Koblenz, Deutschland, am 16. Juni 2021. Illustration © 2021 Moner Alkadri für Human Rights Watch

Das Gericht in Koblenz veröffentlicht gelegentlich Pressemitteilungen zu verfahrenstechnischen oder logistischen Fragen im Zusammenhang mit dem Prozess. Diese sind auf der Website verfügbar. Die Informationen werden nicht ins Englische oder Arabische übersetzt. Bislang haben weder die Justiz- noch die Strafverfolgungsbehörden die syrische Gemeinschaft in Deutschland oder im Ausland angesprochen.  

Unzureichende Kontakte zu den betroffenen Gemeinschaften in Deutschland können sich direkt auf den Erfolg der Bemühungen um Rechenschaftspflicht für schwere internationale Verbrechen in Syrien auswirken. Angst und Misstrauen seitens der Syrer*innen in Deutschland hemmen ihre Bereitschaft, potenziell beweiskräftige Informationen mit den Behörden zu teilen. Mangelndes Bewusstsein und Verständnis für die bestehenden Verfahren und Systeme verstärken diese Haltung noch und verhindern höchstwahrscheinlich, dass die Syrer*innen diese Justizbemühungen vollständig verstehen und zu ihnen beitragen können.

  1.  Gibt es weitere Verfahren in Deutschland gegen syrische Beamte oder andere Parteien des Syrien-Konflikts, die verantwortlich für schwere Verbrechen sind?   

Im Juni 2020 wurde Alaa M., ein mutmaßliches ehemaliges Mitglied des syrischen Militärgeheimdienstes, festgenommen.Er befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Er soll als Arzt in einem Gefängnis des syrischen Militärgeheimdienstes gearbeitet haben und wird der Folter, der Tötung, der Freiheitsberaubung und in einem Fall des Versuchs, einem anderen Menschen die Fortpflanzungsfähigkeit zu nehmen, beschuldigt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft verließ Alaa M. Syrien und kam Mitte 2015 nach Deutschland, wo er als Arzt praktizierte. Die Bundesanwaltschaft hat Anklage vor dem Oberlandesgericht Frankfurt erhoben. Der Prozess wird voraussichtlich in diesem Jahr beginnen.

Neben diesen Verfahren gegen syrische Staatsbedienstete gibt es zahlreiche Verfahren gegen Mitglieder von bewaffneten Organisationen wie dem Islamischen Staat (IS) oder Jabhat al-Nusra, die wegen in Syrien begangenen Kriegsverbrechen und Terrordelikten angeklagt sind. Viele dieser Verfahren finden nicht auf Grundlage der universellen Gerichtsbarkeit statt, da die Angeklagten deutsche Staatsangehörige sind.

  1.  Könnte der syrische Staatschef Bashar al-Assad oder andere hochrangige Regierungsbeamte im Rahmen der universellen Gerichtsbarkeit strafrechtlich verfolgt werden?

Nach Auffassung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) ist Bashar al-Assad als Staatschef während seiner Amtszeit immun gegen eine Strafverfolgung vor den nationalen Gerichten eines Drittstaats. Allerdings könnte al-Assad nach den Gesetzen über die universelle Gerichtsbarkeit strafrechtlich verfolgt werden, sobald er nicht mehr im Amt ist. Im Januar entschied der Bundesgerichtshof, dass es keine funktionale Immunität für rangniedere Personen gibt, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.

  1.  Gibt es andere Möglichkeiten, Verantwortliche für schwere Verbrechen in Syrien zur Rechenschaft zu ziehen?

Neben der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit für schwere Verbrechen gibt es auch die Möglichkeit, sich auf die staatliche Verantwortung zu berufen. Die Niederlande gaben am 18. September 2020 bekannt, Syrien von ihrer Absicht in Kenntnis gesetzt zu haben, die Regierung im Rahmen des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter zur Rechenschaft zu ziehen. Kanada hat sich diesen Bemühungen im März 2021 angeschlossen. Die niederländische Initiative ist ein wichtiger Schritt, der schließlich zu einem Verfahren gegen Syrien vor dem IGH führen könnte. Diese Bemühungen könnten sich als ein weiterer Bruch in der konzertierten Blockade der internationalen Rechenschaftspflicht für in Syrien begangene Verbrechen erweisen und dazu beitragen, die dringend erforderliche Rechenschaftspflicht zu erreichen.

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