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Volodymyr Ivashchenko zeigt den Keller, wo er in den ersten Tages des Krieges mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter, seiner Tochter und seinem 3-jährigem Enkel Schutz gesucht hat, Yahidne, 17. April 2022. Seine 70-jährige Schwiegermutter, Nadezhda Buchenko, starb in einem Schulkeller, als sie dort von russischen Truppen festgehalten wurde. © 2022 Human Rights Watch

(Kiew) - Die russischen Streitkräfte, die von Ende Februar bis März 2022 einen Großteil der Regionen Kiew und Tschernihiw im Nordosten der Ukraine kontrollierten, waren für summarische Hinrichtungen, Folter und weitere schwere Misshandlungen von Zivilist*innen veranwortlich. Diese Vergehen stellen offensichtlich Kriegsverbrechen dar, so Human Rights Watch heute.

In 17 Dörfern und Kleinstädten in den Regionen Kiew und Tschernihiw, die Human Rights Watch im April besucht hat, wurden 22 offensichtliche summarische Hinrichtungen, 9 andere ungesetzliche Tötungen, 6 mögliche Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen und 7 Fälle von Folter dokumentiert. Einundzwanzig Zivilist*innen berichteten von unrechtmäßiger Inhaftierung unter unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen.

© 2022 Human Rights Watch

„Die zahlreichen Gräueltaten der russischen Streitkräfte, die zu Beginn des Krieges Teile der Nordostukraine besetzten, sind abscheulich, rechtswidrig und grausam“, sagte Giorgi Gogia, stellvertretender Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Diese Übergriffe gegen Zivilisten sind offensichtlich Kriegsverbrechen, die umgehend und unparteiisch untersucht und angemessen strafrechtlich verfolgt werden sollten.“

Human Rights Watch befragte zwischen dem 10. April und dem 10. Mai 65 Personen, darunter ehemalige Häftlinge, Überlebende von Folter, Familien der Opfer und andere Zeug*innen. Human Rights Watch untersuchte auch physische Beweise an den Orten, an denen einige der mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen stattfanden, sowie Fotos und Videos, die von Opfern und Zeug*innen zur Verfügung gestellt wurden.

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar waren die russischen Streitkräfte für zahlreiche Verstöße gegen das Kriegsrecht verantwortlich, die möglicherweise Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Human Rights Watch hat bereits 10 summarische Hinrichtungen in der Stadt Bucha und mehreren anderen Städten und Dörfern im Nordosten des Landes während der Besetzung durch die russischen Streitkräfte im März dokumentiert.

Leere Container für Boden-Luft-Raketen, die von den russischen Truppen in Novyi Bykiv zurückgelassen wurden, 16. April 2022. © 2022 Human Rights Watch

In einer der 22 neu dokumentierten Tötungen in der Region Kiew sagte Anastasia Andriivna, sie sei am 19. März zu Hause gewesen, als Soldaten ihren Sohn Ihor Savran, 45, festnahmen, nachdem sie seinen alten Militärmantel gefunden hatten. Am 31. März, dem Tag nach dem Abzug der russischen Streitkräfte, fand Anastasia Andriivna die Leiche ihres Sohnes in einer Scheune etwa 100 Meter von ihrem Haus entfernt, nachdem sie seine aus dem Scheunentor ragenden Turnschuhe entdeckt hatte.

Zivilist*innen berichteten, dass sie von den russischen Streitkräften tage- oder wochenlang unter grauenvollen Bedingungen an Orten wie dem Keller eines Schulhauses, einem Raum in einer Fensterfabrik und einer Grube in einem Heizungsraum festgehalten worden waren, mit wenig oder gar keiner Nahrung, unzureichend Wasser und ohne Zugang zu Toiletten. In Jahidne hielten die russischen Streitkräfte über 350 Dorfbewohner*innen, darunter mindestens 70 Kinder, 5 davon Säuglinge, 28 Tage lang im Keller eines Schulgebäudes fest und schränkten ihre Möglichkeiten, das Haus auch nur kurz zu verlassen, stark ein. Es gab kaum Luft oder Platz, um sich hinzulegen, und die Menschen mussten Eimer als Toilette benutzen.

„Nach einer Woche husteten alle heftig“, sagte jemand, der in der Schule festgehalten wurde. „Fast alle Kinder hatten hohes Fieber, Hustenkrämpfe und mussten sich übergeben.“ Ein anderer sagte, dass sich einige Menschen durch das ständige Sitzen wundgelegen hätten. Zehn ältere Menschen starben.

In Dymer hielten die russischen Streitkräfte mehrere Dutzend Menschen, die Männer mit verbundenen Augen und in Handschellen, mehrere Wochen lang in einem 40 Quadratmeter großen Raum in der Fensterfabrik der Stadt fest, mit wenig Nahrung und Wasser und Eimern als Toiletten.

Human Rights Watch dokumentierte sieben Fälle von Folter, in denen russische Soldaten Gefangene schlugen, mit Elektroschocks traktierten oder Scheinhinrichtungen durchführten, um sie zu zwingen, Informationen zu liefern. „Sie hielten mir ein Gewehr an den Kopf, luden es und ich hörte drei Schüsse“, sagte ein Mann, dem die Augen verbunden worden waren. „Ich hörte auch die Patronenhülsen auf den Boden fallen und dachte, das war's für mich.“

Heizraum bei der Schule von Yahidne. Russische Soldaten sperrten mehr als 350 Dorfbewohner 28 Tage lang in den Keller der Schule. Zehn ältere Personen starben. Ihre Leichname wurden tagelang in dem Heizraum aufbewahrt, bevor sie auf dem Dorffriedhof begraben werden konnten, Yahidne, 17. April 2022. © 2022 Human Rights Watch

Human Rights Watch dokumentierte neun Fälle, in denen russische Streitkräfte ohne offensichtliche militärische Rechtfertigung auf Zivilist*innen schossen und diese töteten. Am Nachmittag des 14. März zum Beispiel, als ein russischer Konvoi durch das Dorf Mokhnatyn nordwestlich von Tschernihiw fuhr, erschossen Soldaten 17-jährige Zwillingsbrüder und ihren 18-jährigen Freund.

Alle befragten Zeug*innen gaben an, dass es sich um Zivilist*innen handelte, die nicht am Kampfgeschehen teilgenommen hatten, mit Ausnahme von zwei Folteropfern, die sagten, sie seien Mitglieder einer örtlichen Territorialverteidigungseinheit.

Alle am bewaffneten Konflikt in der Ukraine beteiligten Parteien sind zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts bzw. der Kriegsgesetze verpflichtet, einschließlich der Genfer Konventionen von 1949, des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen und des Völkergewohnheitsrechts. Kriegerische Streitkräfte, die ein Gebiet faktisch kontrollieren, unterliegen dem internationalen Besatzungsrecht, das in den Haager Bestimmungen von 1907 und den Genfer Konventionen verankert ist. Die internationalen Menschenrechtsbestimmungen, insbesondere der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die Europäische Menschenrechtskonvention, sind jederzeit anwendbar.

Die Kriegsgesetze verbieten Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Hinrichtungen im Schnellverfahren, Folter, das Verschwindenlassen von Personen, unrechtmäßige Inhaftierung und unmenschliche Behandlung von Gefangenen. Auch Plünderungen und Brandschatzungen sind verboten. Die Internierung oder Zuweisung eines Wohnsitzes für Zivilist*innen ist nur in Ausnahmefällen aus „zwingenden Gründen der Sicherheit“ zulässig. Eine Konfliktpartei, die ein Gebiet besetzt, ist in der Regel dafür verantwortlich, dass die von ihr kontrollierte Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Wasser und medizinisch versorgt wird, und muss die Arbeit von Hilfsorganisationen erleichtern.

Gruben im Schulhof von Yahidne, die offensichtlich von den russischen Truppen genutzt wurden, Yahidne, 17. April 2022. © 2022 Human Rights Watch

Jeder, der in krimineller Absicht schwere Verstöße gegen die Kriegsgesetze anordnet oder begeht oder der Beihilfe zu Verstößen leistet, ist für Kriegsverbrechen verantwortlich. Befehlshaber von Streitkräften, die von solchen Verbrechen wussten oder Grund hatten, davon Kenntnis zu haben, aber nicht versucht haben, sie zu verhindern oder die Verantwortlichen zu bestrafen, sind im Rahmen der Befehlsverantwortung für Kriegsverbrechen strafrechtlich verantwortlich.

Russland und die Ukraine sind nach den Genfer Konventionen verpflichtet, mutmaßliche Kriegsverbrechen, die von ihren Streitkräften oder in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurden, zu untersuchen und die Verantwortlichen angemessen zu bestrafen. Die Opfer von Übergriffen und ihre Familien sollten umgehend und angemessen entschädigt werden.

Generell sollten die ukrainischen Behörden Maßnahmen ergreifen, um Beweise zu sichern, die für eine künftige Strafverfolgung von Kriegsverbrechen von entscheidender Bedeutung sein könnten. Dazu gehören die Absperrung von Gräbern bis zur Durchführung professioneller Exhumierungen, die Aufnahme von Fotos der Leichen und der Umgebung vor der Beerdigung, die Dokumentation der Todesursachen, soweit möglich, die Aufzeichnung der Namen der Opfer und die Identifizierung von Zeug*innen sowie die Suche nach Material zur Identifizierung, das die russischen Streitkräfte möglicherweise zurückgelassen haben.

„Es wird immer deutlicher, dass die ukrainische Zivilbevölkerung in den von den russischen Streitkräften besetzten Gebieten schreckliche Qualen erleiden musste“, sagte Gogia. „Gerechtigkeit wird es vielleicht nicht so schnell geben. Aber es sollten alle Schritte unternommen werden, danit diejenigen, die gelitten haben, eines Tages Gerechtigkeit erfahren.“

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