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Der 24-jährige, psychisch kranke Muji lebt seit Monaten angekettet in Marsiyos Haus, einer privaten, familiengeführten Einrichtung in Kebumen, Zentraljava, Indonesien. Als er fotografiert wurde, sagte Muji, dass er “sehr, sehr hungrig” sei. Er zeigte auf die Ketten an seinen Gelenken und sagte, dass dies gegen die Menschenrechte verstoβe. © 2019 Andrea Star Reese

(London) – Hunderttausende Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen werden weltweit angekettet, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Männer, Frauen und Kinder, manche davon gerade einmal 10 Jahre alt, werden in etwa 60 Ländern in Asien, Afrika, Europa, dem Nahen Osten sowie in Nord-, Mittel- und Südamerika wochen-, monate- und sogar jahrelang angekettet oder in engen Räumen eingesperrt.

Der 56-seitige Bericht „Living in Chains: Shackling of People with Psychosocial Disabilities Worldwide“ zeigt, dass Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen oft durch ihre eigenen Familien zu Hause oder in überfüllten Einrichtungen unter unhygienischen Bedingungen und meist gegen ihren Willen angekettet werden. Gründe hierfür sind eine weit verbreitete Stigmatisierung sowie eine fehlende psychiatrische Gesundheitsversorgung. Viele werden dazu gezwungen, auf engstem Raum zu essen, zu schlafen und auch dort ihre Notdurft zu verrichten. In staatlichen oder privat betriebenen Einrichtungen ebenso wie in traditionellen oder religiösen Heilzentren werden sie häufig zum Fasten sowie zur Einnahme von Medikamenten oder Kräuterpräparaten gezwungen. Des Weiteren sind sie physischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Der Bericht umfasst Daten aus Untersuchungen vor Ort sowie Interviews aus Afghanistan, Burkina Faso, Kambodscha, China, Ghana, Indonesien, Kenia, Liberia, Mexiko, Mosambik, Nigeria, Sierra Leone, Palästina, der sich einseitig als unabhängig erklärten Republik Somaliland, dem Süd-Sudan und dem Jemen.

„Das Anketten von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen ist eine weit verbreitete, brutale Praxis, die in vielen Gemeinschaften ein offenes Geheimnis ist“, so Kriti Sharma, Expertin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Menschen verbringen Jahre festgekettet an einem Baum, in Käfigen oder Ziegenställen, einfach weil ihre Familien nicht wissen, was sie sonst mit ihnen machen sollen. Und die Regierung bietet ihnen keine vernünftige menschenwürdige Alternative.“

Während zahlreiche Länder psychosoziale Beeinträchtigungen mittlerweile ernster nehmen, bleibt die Praxis des Ankettens größtenteils unbeachtet. Es liegen keine Zahlen vor und es gibt weder internationale noch regionale Bemühungen, Menschen mit koordinierten Kampagnen von den Ketten zu befreien. Deswegen hat Human Rights Watch, gemeinsam mit Menschen, die sich für die Rechte von Personen mit psychosozialen Beeinträchtigungen einsetzen und deren Situation hautnah miterlebt haben, sowie mit Menschenrechts- und Anti-Folter-Organisationen auf der ganzen Welt, im Vorfeld des Internationalen Tages der geistigen Gesundheit am 10. Oktober die globale Kampagne #BreakTheChains eingeläutet, durch die das Anketten von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen beendet werden soll.

Human Rights Watch sprach mit mehr als 350 Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen, einschließlich Kindern, sowie mit 430 Familienmitgliedern, Angestellten von Einrichtungen, Fachleuten auf dem Gebiet, Wunderheilern, Regierungsbeamten und Aktivisten, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen. Bei der Untersuchung der Situation in 110 Ländern fand Human Rights Watch Belege dafür, dass Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen in etwa 60 Ländern angekettet werden, und zwar unabhängig von deren Alter, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, sozioökonomischer Schicht und davon, ob sie auf dem Land oder in Städten leben.

Weltweit leiden geschätzt 792 Millionen Menschen, und damit etwa jede zehnte Person bzw. jedes fünfte Kind, an psychosozialen Beeinträchtigungen. Dennoch geben Regierungen weniger als zwei Prozent ihres Gesundheitsbudgets für die psychosoziale Gesundheitsfürsorge aus. In mehr als zwei Drittel der Länder sehen die nationalen Krankenversicherungssysteme nicht vor, dass Ausgaben für Dienste im Bereich der geistigen Gesundheit rückerstattet werden. In Ländern, in denen solche Dienste kostenlos oder subventioniert sind, stellen lange Anfahrtswege oder Reisekosten oft ein erhebliches Hindernis dar.

Angesichts des fehlenden Bewusstseins und zu wenig Unterstützungsleistungen haben viele Familien das Gefühl, dass ihnen keine Alternative zum Anketten ihrer Angehörigen bleibt. Häufig steht dahinter die Befürchtung, die Person könnte davonlaufen oder sich selbst bzw. andere verletzen.

Die Praxis des Ankettens kommt für gewöhnlich in Familien vor, die psychosoziale Beeinträchtigungen auf böse Geister oder Sünden zurückführen. Daher sind traditionelle Heiler oder Wunderheiler die erste Anlaufstelle; auf psychiatrische Einrichtungen greifen die Familien nur im Notfall zu. Mura, ein 56-jähriger Mann im indonesischen Bali, wurde zu 103 verschiedenen Wunderheilern gebracht, und als das keine Wirkung zeitigte, jahrelang in einen Raum gesperrt.

In vielen Ländern bringen Familien ihre Angehörigen, einschließlich Kindern von gerade einmal 10 Jahren, zu traditionellen Heilzentren oder Wunderheilern, wo man sie angekettet, um sie zu bestrafen oder ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken. Angekettete Menschen leben unter extrem unwürdigen Bedingungen. Sie werden zudem häufig zur Einnahme von Medikamenten gezwungen oder alternativen „Behandlungen“ unterworfen. Dazu zählen zum Beispiel die Einnahme „magischer“ Kräuterpräparate, Fasten, brutale Massagen durch traditionelle Heiler, die Rezitation von Koranversen direkt ins Ohr der Person, christliche Gesänge oder besondere Bäder.

Das Anketten beeinträchtigt sowohl die geistige als auch die körperliche Gesundheit. Angekettete Menschen leider unter posttraumatischem Stress, Unterernährung, Infektionskrankheiten, Nervenschäden, Muskelatrophie und Herz-Kreislauf-Problemen. Angekettet können die Betroffene sich auch nicht bewegen, da die Ketten sie häufig am Laufen oder Aufstehen hindern. Manche werden sogar an eine andere Person gekettet, was bedeutet, dass sie ihre Notdurft gemeinsam verrichten und nebeneinander schlafen müssen.

Ein Mann aus Kenia, der aktuell angekettet lebt, sagte: „So sollten Menschen nicht leben. Menschen müssen frei sein.“

„In vielen dieser Einrichtungen sind die hygienischen Bedingungen grauenhaft, da die Betroffenen weder baden noch ihre Kleidung wechseln dürfen und ihr Leben sich innerhalb eines Zwei-Meter-Radius abspielt“, sagte Sharma. „Sie werden ihrer Würde beraubt.“

Ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen, Seife oder medizinischer Grundversorgung sind angekettete Menschen einem größeren Risiko ausgesetzt, an Covid-19 zu erkranken. Und in Ländern, in denen die Covid-19-Pandemie den Zugang zu psychiatrischen Einrichtungen behindert, können Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen zunehmend Gefahr laufen, angekettet zu werden.

Nationale Regierungen sollen das Anketten umgehend verbieten, gegen die Stigmatisierung vorgehen und gemeinschaftsbasierte Gesundheitsdienste entwickeln, die allgemein zugänglich, hochwertig und bezahlbar sind. Human Rights Watch empfiehlt Regierungen als Sofortmaßnahme, die Bedingungen in staatlichen und privat betriebenen Einrichtungen zu erfassen und regelmäβig zu überprüfen. Zudem sollen Maßnahmen ergriffen werden, wenn es in Einrichtungen zu Missbrauch kommt.

„Es ist grauenhaft, dass Hunderttausende Menschen weltweit angekettet leben müssen, isoliert, missbraucht und allein“, sagte Sharma. „Regierungen dürfen dieses Problem nicht länger unter den Teppich kehren, sondern müssen jetzt konkrete Maßnahmen ergreifen.“

Weitere Zitate:

„Ich lebe seit fünf Jahren angekettet. Die Kette ist so schwer. Es fühlt sich nicht richtig an; es macht mich traurig. Ich bin in einem kleinen Raum mit sieben Männern. Ich darf keine Kleidung tragen, lediglich Unterwäsche. Am Morgen esse ich Haferbrei, und wenn ich Glück habe, finde ich am Abend Brot, aber das passiert nicht jeden Abend.“

—Paul, ein Mann mit psychosozialer Beeinträchtigung in Kisumu, Kenia, Februar 2020

„Das Anketten von Menschen mit psychosozialer Beeinträchtigung muss ein Ende finden – es muss ein Ende finden.“
—Tina Mensah, stellvertretende Gesundheitsministerin aus Ghana, Accra, Ghana, 8. November 2019

„Ich bin eingesperrt in dieser Zelle und das macht mich traurig. Ich möchte rausgehen, zur Arbeit gehen, auf den Reisfeldern Reis anbauen. Macht bitte die Tür auf. Macht bitte die Tür auf. Schließt mich nicht ein.“
—Made, ein Mann mit psychosozialer Beeinträchtigung, der seit zwei Jahren in einer eigens errichteten Zelle auf dem Land seines Vaters eingesperrt ist, Bali, Indonesien, November 2019

„Ich hatte Angst, dass mich jemand nachts angreifen würde und ich mich wegen meiner Ketten nicht würde verteidigen können.“
—Felipe, ein Mann mit psychosozialer Beeinträchtigung, der in einer psychiatrischen Anstalt nackt mit einem Vorhängeschloss angekettet wurde, Puebla, Mexiko, 2018

„Meine Notdurft verrichte ich in Plastiktüten, die sie nachts mitnehmen. Es ist Tage her, dass ich zum letzten Mal gebadet habe. Essen bekomme ich einmal am Tag. Ich kann nicht frei herumlaufen. Nachts schlafe ich im Haus. An einem anderen Ort als die Männer. Ich hasse die Ketten.“
—Mudinat, eine Frau mit psychosozialer Beeinträchtigung, die an eine Kirche angekettet ist, Abeokuta, Nigeria, September 2019

„Während meiner gesamten Kindheit war meine Tante in einem Holzverschlag eingesperrt, und ich durfte keinen Kontakt zu ihr haben. Meine Familie glaubte, dass ihre psychosoziale Beeinträchtigung die gesamte Familie stigmatisieren würde. Ich wollte meiner Tante wirklich helfen, konnte es aber nicht. Es brach mir das Herz.“
—Ying (Name geändert), eine junge Frau, die in der chinesischen Provinz Goungdong aufwuchs, November 2019

„Menschen aus dem Stadtviertel sagen, dass ich verrückt bin [maluca oder n’lhanyi]. Ich wurde in ein traditionelles Heilzentrum gebracht, wo sie mir die Handgelenke aufschnitten, um mir Medikamente zuzuführen, und in ein anderes, wo ein Wunderheiler mich zwang, Bäder mit Hühnerblut zu nehmen.“
—Fiera, 42, eine Frau mit psychosozialer Beeinträchtigung, Maputo, Mosambik, November 2019

„Es bricht mir das Herz, dass zwei meiner Cousins mit psychosozialer Beeinträchtigung seit vielen Jahren gemeinsam in einem Raum weggesperrt sind. Meine Tante hat das Beste versucht, um ihnen zu helfen, aber sie kämpft mit Stigmatisierung und dem Fehlen einer leistungsfähigen psychiatrischen Gesundheitsversorgung im Oman. Es ist Zeit, dass die Regierungen endlich handeln und Familien nicht länger damit allein lassen.“
—Ridha, Familienmitglied mit angeketteten Angehörigen im Oman, September 2020

„Ich wurde angekettet, geschlagen und eingeräuchert, um den Teufel zu vertreiben. Sie sind überzeugt, dass du besessen bist und trichtern dir Flüssigkeiten durch die Nase ein, um den Teufel auszutreiben.“
—Benjamin, 40, Aktivist, der sich für die Rechte von Personen mit psychosozialer Beeinträchtigung einsetzt und an eine Kirche in Monteserrado angekettet war, Liberia, Februar 2020

„Die Familien fesseln sie [Menschen mit psychosozialer Beeinträchtigung] regelmäßig. Wir sehen das an den Spuren auf ihren Körpern. Sie haben Narben.“
— mexikanischer Beamte aus der Staatsanwaltschaft zum Schutz von Menschen mit Behinderungen

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