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Deutschland: Schuldspruch im Prozess zu staatlicher Folter in Syrien

Ehemaliger syrischer Geheimdienstbeamter für schuldig befunden

Fotos von inhaftierten oder verschwundenen Syrer*innen, aufgestellt von „Families for Freedom“, als Teil einer Protestaktion vor dem Oberlandesgericht in Koblenz am 2. Juli 2020. © 2020 Alexander Suttor

(Berlin) - Die Verurteilung eines ehemaligen syrischen Geheimdienstbeamten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch das Oberlandesgericht Koblenz ist ein bahnbrechender Schritt in Richtung Gerechtigkeit für schwere Verbrechen in Syrien, so Human Rights Watch heute. Das Urteil ist ein bedeutender Moment für Zivilist*innen, die Folter und sexuellen Missbrauch in syrischen Gefängnissen überlebt haben.

Am 13. Januar 2022 verkündete das Gericht in Koblenz sein Urteil im Prozess gegen Anwar R., ein ehemaliges Mitglied der Generaldirektion des syrischen Geheimdienstes, einer der vier wichtigsten Geheimdienste des Landes, der gemeinhin als Mukhabarat bezeichnet wird. Anwar R. ist der ranghöchste ehemalige syrische Regierungsbeamte, der wegen schwerer Verbrechen in Syrien verurteilt wurde.

Die deutsche Staatsanwaltschaft wirft Anwar R. vor, in seiner Eigenschaft als Leiter der Ermittlungsabteilung des Gefangenenlagers al-Khatib in Damaskus, auch bekannt als „Abteilung 251“, die Folter von Gefangenen beaufsichtigt zu haben.

Die Richter*innen befanden Anwar R. für schuldig, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, und verurteilten ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe. Nach der Urteilsverkündung hat Anwar R. eine Woche Zeit, um Revision einzulegen.

„Mehr als zehn Jahre nach den Verbrechen in Syrien ist das Urteil des deutschen Gerichts ein lang erwarteter Hoffnungsschimmer, dass die Gerechtigkeit am Ende siegen kann und wird“, sagte Balkees Jarrah, stellvertretende Direktorin für internationale Justiz bei Human Rights Watch. „Andere Länder sollten dem Beispiel Deutschlands folgen und die Bemühungen um die Strafverfolgung schwerer Verbrechen in Syrien aktiv unterstützen.“

Human Rights Watch veröffentlichte am 6. Januar ein Frage-Antwort-Dokument und einen Multimedia-Artikel über den Prozess und seine Einordnung in den größeren Kontext des Syrienkonflikts. Der Prozess gegen Anwar R. und Eyad A., der im Februar der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden wurde, begann im April 2020 und war der weltweit erste Prozess wegen staatlich geförderter Folter in Syrien. Eyad A.legte gegen das Urteil Revision ein. Diese ist noch anhängig.

Syrische Überlebende, Anwält*innen und Aktivist*innen haben entscheidend dazu beigetragen, dass dieser Prozess zustande gekommen ist. Sie haben nicht nur auf Gerechtigkeit gedrängt, sondern auch die Grundlagen dafür geschaffen, dass der Gerechtigkeit überhaupt Genüge getan werden kann, so Human Rights Watch.

Über 80 Zeug*innen sagten aus, darunter ehemalige Häftlinge, ehemalige Mitarbeiter*innen der syrischen Regierung, deutsche Polizeiermittler*innen und Syrien-Expert*innen. Die Zeugenaussagen enthielten gut dokumentierte Berichte über Folter und sexuellen Missbrauch in der Abteilung 251 sowie Beschreibungen von Massengräbern und Einzelheiten über die Politik der syrischen Regierung, 2011 gewaltsam gegen friedliche Demonstrant*innen vorzugehen. Mehrere der Zeug*innen waren in der Lage, Anwar R. im Gerichtssaal zu identifizieren.

Eine der größten Herausforderungen bei diesem Prozess war der Zeugenschutz. Mehrere in Deutschland und anderen europäischen Ländern lebende Zeug*innen sagten ihren Anhörungstermin vor Gericht ab, weil sie um ihr Leben und ihre Sicherheit oder die ihrer Familien fürchteten. Mehrere Zeug*innen, von denen einige auch Opfer waren, sagten aus, dass sie aufgrund ihrer Rolle in dem Prozess ein Risiko für sich und ihre Familien befürchteten. Die deutschen Behörden sollten sicherstellen, dass Zeug*innen und Opfer ausreichend über ihre Rechte auf Schutzmaßnahmen informiert werden, einschließlich des Rechts, anonym vor Gericht auszusagen.

Das Fehlen von Übersetzungen hat auch die Beteiligung der Überlebenden und der betroffenen Gemeinschaft am Prozess an den Rand gedrängt. Um sinnvoll zu sein, sollte die Gerechtigkeit nicht nur hergestellt werden, sondern auch sichtbar sein. Der Prozess fand in deutscher Sprache statt. Nicht akkreditierte arabischsprachige Journalist*innen und Menschen aus den betroffenen Gemeinschaften, hatten keinen Zugang zu Übersetzungen im Gerichtssaal. Obwohl einige der interessierten Arabischsprechenden über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügten, war es nicht einfach, den Gerichtssitzungen zu folgen, insbesondere aufgrund der verwendeten Fachsprache und des Sprechtempos im Gerichtssaal. 

Seit 2011 wurden in Syrien Zehntausende Menschen inhaftiert oder Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens, zumeist durch Regierungstruppen, die ein ausgedehntes Netz von Haftanstalten im ganzen Land nutzen. Die syrische Regierung hält weiterhin Tausende von Menschen fest und lässt sie gewaltsam verschwinden.

Viele der Inhaftierten sind an den Folgen von Folter und schrecklichen Haftbedingungen gestorben. Umfassende Gerechtigkeit für diese und andere unkontrollierte Gräueltaten in Syrien ist schwer zu erreichen. Syrien ist kein Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs. Und 2014 blockierten Russland und China die Bemühungen im UN-Sicherheitsrat, dem Gericht ein Mandat für schwere Verbrechen in Syrien zu erteilen.

Der Prozess gegen Anwar R. und Eyad A. war möglich, weil die deutschen Gesetze die universelle Gerichtsbarkeit für bestimmte schwerste Verbrechen nach internationalem Recht anerkennen. Diese ermöglicht die Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung derartiger Verbrechen unabhängig davon, wo sie begangen wurden, und unabhängig von der Nationalität der Verdächtigen oder der Opfer. Die universelle Gerichtsbarkeit ist nach wie vor einer der wenigen Wege zur Gerechtigkeit für in Syrien begangene Verbrechen.

Deutschland verfügt über mehrere Voraussetzungen, die eine erfolgreiche Untersuchung und Verfolgung schwerer Verbrechen in Syrien ermöglichen. Es verfügt vor allem über einen umfassenden Rechtsrahmen, gut funktionierende Spezialeinheiten für Kriegsverbrechen und Erfahrung mit der strafrechtlichen Verfolgung solcher Verbrechen. Länder mit Gesetzen zur universellen Gerichtsbarkeit sollten innerhalb der Strafverfolgungsbehörden spezialisierte Einheiten für Kriegsverbrechen einrichten und dafür sorgen, dass diese Einheiten mit angemessenen Mitteln und Personal ausgestattet werden.

„Der Prozess in Koblenz ist eine Botschaft an die syrischen Behörden, dass der lange Arm der Justiz sie überall erreicht“, sagte Jarrah. „Der Fall Koblenz hat gezeigt, dass nationale Gerichte eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung der Straflosigkeit spielen können, wenn andere Wege blockiert sind.“

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