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Der Gebäudeeingang des Oberlandesgerichts Frankfurt. © 2022 Julian Zündorf

Am 19. Januar 2022 begann in Frankfurt am Main die Beweisaufnahme in einem Prozess, in dem es um staatliche Folter und Mord im jahrzehntelangen brutalen bewaffneten Konflikt in Syrien geht, so Human Rights Watch. Der Beginn des zweiten Prozesses in Deutschland wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Syrien begangen wurden, zeigt, dass die Bemühungen um Gerechtigkeit für die dort begangenen Gräueltaten neuen Auftrieb gewinnen.

„In den letzten zehn Jahren wurden zahlreiche Beweise für die Gräueltaten in Syrien gesammelt, und wie dieser Fall in Frankfurt zeigt, beginnen diese Bemühungen nun, Früchte zu tragen“, erklärte Balkees Jarrah, stellvertretende Direktorin für internationale Justiz bei Human Rights Watch. „Überlebende der in Syrien begangenen Verbrechen, Anwälte und Aktivisten haben bei diesen Bemühungen eine zentrale Rolle gespielt. Sie haben nicht nur auf Gerechtigkeit gedrängt, sondern auch die Vorarbeit geleistet, die Gerechtigkeit erst möglich macht.“

Bei dem Angeklagten handelt es sich um Alaa M., der in zwei Militärkrankenhäusern in den beiden syrischen Städten Damaskus und Homs als Arzt gearbeitet haben soll. Die deutsche Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, zwischen April 2011 und Ende 2012 in diesen Krankenhäusern sowie in einem vom syrischen Geheimdienst betriebenen Gefangenenlager in Homs Zivilist*innen gefoltert zu haben. Alaa M. kam Mitte 2015 nach Deutschland und arbeitete als Arzt in der Nähe von Kassel, bis er im Juni 2020 festgenommen wurde. Seitdem befindet er sich in Untersuchungshaft.

Einige der Vorwürfe gegen Alaa M. beziehen sich auf mutmaßlich schwere Verbrechen im Militärkrankenhaus 601 in Damaskus. Die Recherchen von Human Rights Watch bestätigen, dass einige der sogenannten „Caesar-Fotos“ in der Garage dieser Einrichtung aufgenommen wurden. Die Fotos, die von einer Person aus Syrien herausgeschmuggelt wurden, als diese sich ins Ausland absetzte, wurden im Auftrag des syrischen Sicherheitsapparats zu Dokumentationszwecken aufgenommen. Sie zeigen Tausende seit 2011 in Haft ums Leben gekommene Menschen sowie Mitglieder der Sicherheitskräfte, die bei Angriffen bewaffneter Oppositionsgruppen starben.

Die Fragen, um die es in dem Prozess geht, beleuchten die Rolle des medizinischen Personals in syrischen Krankenhäusern und Haftanstalten, so Human Rights Watch.

Das Frankfurter Oberlandesgericht (OLG) lehnte zunächst Teile der Anklageschrift ab. Am 18. Januar stimmte der Bundesgerichtshof jedoch einem Antrag der Staatsanwaltschaft zu, alle in der ursprünglichen Anklageschrift aufgeführten Anklagepunkte aufrechtzuerhalten.

Der Prozess ist möglich, weil die deutschen Gesetze nach dem Weltrechtsprinzip die Zuständigkeit für einige der schwersten Verbrechen nach internationalem Recht anerkennen, was die Untersuchung und Verfolgung dieser Verbrechen unabhängig vom Ort ihrer Begehung und von der Nationalität der Verdächtigen oder Opfer ermöglicht.

Am 13. Januar hatte das OLG Koblenz Anwar R., einen ehemaligen syrischen Geheimdienstmitarbeiter, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Verurteilung von Anwar R. war ein bedeutender Moment für Zivilist*innen, die Opfer von Folter und sexuellem Missbrauch in syrischen Gefängnissen wurden, so Human Rights Watch. Anwar R. ist der ranghöchste ehemalige syrische Regierungsbeamte, der wegen schwerer Verbrechen in Syrien verurteilt wurde. Ein weiterer Angeklagter im Koblenzer Prozess, Eyad A., wurde im Februar 2021 der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden.

Das OLG Frankfurt sollte alle Anstrengungen unternehmen, um der Öffentlichkeit und den Gemeinden, die von den zahlreichen in Syrien begangenen Verbrechen betroffen sind, alle Informationen zu diesem Prozess zugänglich zu machen. Werden die betroffenen Gemeinden nicht hinreichend informiert, kann sich das direkt auf den Erfolg der Bemühungen auswirken, die Verantwortlichen für schwere internationale Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, so Human Rights Watch.

Die fehlende Übersetzung der Inhalte des Prozesses ins Arabische erschwerte eine Teilnahme von Überlebenden sowie von betroffenen Gemeinden am Prozess in Koblenz erheblich. Nicht akkreditierte arabischsprachige Journalist*innen sowie Menschen aus betroffenen Gemeinden, die Arabisch sprechen, hatten keinen Zugang zu den Übersetzungsgeräten im Gerichtssaal. Obgleich einige der interessierten Arabischsprechenden über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügen, war es für sie nicht einfach, dem Geschehen zu folgen, vor allem aufgrund des verwendeten Fachvokabulars und des Sprechtempos im Gerichtssaal.  

Das OLG Frankfurter beschloss am 15. Dezember 2021, der Öffentlichkeit keine Übersetzung der Prozessinhalte zur Verfügung zu stellen, nachdem der Angeklagte in diesem Fall auf sein Recht auf eine arabische Verdolmetschung verzichtet hatte. Das Gericht begründete dies auch mit finanziellen Einschränkungen. Allerdings hat das Gericht Pressemitteilungen über den Fall ins Englische übersetzen lassen. Zeug*innen und offizielle Verfahrensbeteiligte, die nicht Deutsch sprechen, erhalten eine Verdolmetschung.

Ein weiteres Problem für die betroffenen Gemeinden, das Verfahren in Frankfurt zu verfolgen, besteht darin, dass das Gericht Besucher*innen untersagt hat, sich im Gerichtssaal Notizen zu machen, es sei denn, sie können ein „wissenschaftliches Dokumentationsinteresse“ nachweisen.

Fehlende Informationen über die Verfahren und Justizsysteme hindert Syrer*innen und andere daran, die Gerichtsprozesse außerhalb Syriens vollständig zu verstehen und zu ihnen beizutragen, so Human Rights Watch. Untersuchungen von Human Rights Watch und anderen haben gezeigt, dass Bemühungen um einen angemessenen Zugang zur Justiz eine positive Wirkung auf die betroffenen Gemeinden haben.

„Damit Gerechtigkeit tatsächlich Wirkung erzielt, sollte sie nicht einfach nur walten, sondern auch sichtbar sein“, so Jarrah. „Die Gerichtsbehörden sollten solchen Fällen, in denen es um die schwersten, im Ausland begangenen Verbrechen geht, mehr Menschen eine arabische Übersetzung zur Verfügung stellen.“

Correction

We have corrected the online version of this release to indicate that Alaa M. was arrested in June 2020 not June 2019.

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