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Russland kriminalisiert unabhängige Kriegsberichterstattung und Antikriegsproteste

„Diskreditierung“ der Streitkräfte, Aufruf zur Beendigung des Krieges und Unterstützung der Sanktionen werden zu Verbrechen

Eine russische Flagge weht auf einem Gebäude der Staatsduma in Moskau. Februar 2022. © 2022 Alexey Maishev/Sputnik via AP

(Berlin) - Russland hat zwei Gesetze erlassen, die am 4. März in Kraft getreten sind und unabhängige Kriegsberichterstattung und Proteste gegen den Krieg mit Strafen von bis zu 15 Jahren Gefängnis kriminalisieren. Nach diesen Gesetzen ist es jetzt illegal, „Fake News“ über das russische Militär zu verbreiten, ein Ende seines Einsatzes zu fordern oder Sanktionen gegen Russland zu unterstützen.

„Diese neuen Gesetze sind Teil der rücksichtslosen Bemühungen Russlands, alle abweichenden Meinungen zu unterdrücken und sicherzustellen, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu Informationen hat, die der Darstellung des Kremls über die Invasion der Ukraine widersprechen“, sagte Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa- und Zentralasien bei Human Rights Watch.

Die beiden Gesetze wurden am 4. März im Eilverfahren durch das Parlament gebracht und von beiden Kammern einstimmig angenommen. Präsident Putin unterzeichnete sie und setzte sie noch am selben Tag in Kraft.

Mit den Gesetzen unterliegt jede Berichterstattung über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine einer strengen Zensur, wobei die russischen Behörden es verbieten, diesen als „Krieg“ oder „Invasion“ zu bezeichnen. Die Gesetze sind jedoch nicht allein auf den aktuellen Krieg in der Ukraine beschränkt, sondern gelten für jeden Einsatz, an dem russische Streitkräfte beteiligt sind, wie zum Beispiel im Rahmen des regionalen Militärbündnisses, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).

Es besteht auch die Gefahr, dass das Gesetz rückwirkend angewandt werden könnte. Die russischen Behörden haben routinemäßig Menschen des Extremismus oder der Beteiligung an „unerwünschten Organisationen“ angeklagt, und zwar auf Grundlage von Beiträgen in sozialen Medien, die in den Jahren vor dem Verbot dieser Gruppen gepostet wurden. So verurteilte ein Gericht im September 2021 Igor Kaljapin, den Vorsitzenden des Russischen Komitees gegen Folter, wegen der „Verbreitung von Material“ einer „unerwünschten“ ausländischen Organisation.

Bei diesem Material handelte es sich um einen Artikel auf der Website des Komitees gegen Folter, in dem berichtet wurde, dass die tschechische humanitäre Organisation „Menschen in Not“ Kaljapin für seine Menschenrechtsarbeit ausgezeichnet hatte. Die Organisation wurde im Jahr 2019, zwei Jahre nachdem Kaljapins Organisation den Artikel veröffentlicht hatte, schließlich auf die Liste „unerwünschter“ Organisationen gesetzt. Doch selbst in diesem Fall kam das Gesetz zur Anwendung, wobei die russischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte die Beiträge als „fortgesetzten Verstoß“ interpretierten.

Wenn die Behörden bei den neuen Gesetzen genauso vorgehen, laufen russische Oppositionspolitiker*innen, Aktivist* innen und Journalist* innen Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden – auch wenn sie in der Vergangenheit öffentlich zur Beendigung des Krieges aufgerufen, protestiert, mutmaßliche Verstöße der russischen Streitkräfte publik gemacht oder Sanktionen gegen Russland gefordert hatten. Wenn sie sich außerhalb Russlands aufhalten, könnten sie von Auslieferungsverfahrens betroffen werden.

Human Rights Watch forderte alle Regierungen auf, künftige Auslieferungsersuchen für russische Staatsangehörige wegen Straftaten nach diesen Gesetzen abzulehnen, da dies zu einer Verletzung der Grundrechte der ausgelieferten Person führen und die internationalen rechtlichen Verpflichtungen des Staates verletzen würde.

Am 5. März führte die Polizei eine Razzia in den Räumlichkeiten der Oppositionszeitung „Pskowskaja Gubernija“ und einer Ortsgruppe der Oppositionspartei „Jabloko“ in Pskow, Westrussland, durch und warf ihnen eine angebliche „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ vor. Die Polizei leitete das Verfahren offenbar als Reaktion auf eine Anwohnerin ein, die behauptete, am 28. Februar eine E-Mail mit Aufrufen zur Teilnahme an Antikriegsprotesten erhalten zu haben. Quellen, die die E-Mail gesehen haben, weisen darauf hin, dass keine Beweise dafür vorliegen, dass die E-Mail tatsächlich von der Zeitung oder der Oppositionspartei stammt.

Lev Schlossberg, der sowohl Herausgeber der Zeitung (und früherer Chefredakteur) als auch Vorsitzender der örtlichen „Jabloko“-Partei ist, hat sich allerdings tatsächlich klar gegen die Invasion in die Ukraine und gegen den Krieg ausgesprochen und ist einer der Organisatoren der für nächste Woche in der Stadt geplanten Antikriegsdemonstration. Es liegt daher nahe, anzunehmen, dass die Polizei die E-Mail vom 28. Februar als Vorwand nutzte, um Schlossberg und mit ihm verbundene Einrichtungen ins Visier zu nehmen.

In Erwartung der Verabschiedung der drakonischen Gesetze zogen sich reihenweise ausländische Medien aus Russland zurück. Gleichzeitig entschieden mindestens zwei unabhängige russische Medien, all ihre früheren Beiträge zum Thema Ukraine-Krieg zu löschen. Damit ist zu befürchten, dass sich auch Millionen von Menschen in Russland veranlasst sehen könnten, bestehende Veröffentlichungen und Materialien zu entfernen und zu löschen, mit der Konsequenz, dass die historische Darstellung verzerrt wird.

Als Vertragspartei des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention ist Russland verpflichtet, das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung zu achten und zu schützen. Dieses Recht schließt auch die Freiheit ein, „sich Informationen und Gedankengut jeder Art ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben“. Zwar können diese Rechte aus legitimen Gründen, einschließlich der nationalen Sicherheit, der territorialen Integrität oder der öffentlichen Sicherheit, eingeschränkt werden, wenn dies notwendig und verhältnismäßig erscheint. Der Umfang der russischen Zensur erfüllt aber nicht die Kriterien für einen rechtmäßigen Eingriff in diese Rechte, so Human Rights Watch.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung und den Zugang zu Informationen kann auch in Notfallsituationen, so wie aktuell im Krieg, weiter eingeschränkt werden. Die russischen Behörden machen jedoch weder von ihren besonderen Befugnissen in Kriegszeiten Gebrauch, noch versuchen sie, aufgrund des Ausnahmezustands von ihren Menschenrechtsverpflichtungen abzuweichen, das heißt, diese vorübergehend und teilweise auszusetzen. Das Ausmaß an Kontrolle und Zensur durch den Kreml verstößt sowohl gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung als auch gegen das Recht auf Zugang zu Informationen und ist nach internationalem Recht selbst in Kriegszeiten nicht zu rechtfertigen, so Human Rights Watch.

„Der Kreml macht alle Möglichkeiten der Meinungsäußerung zunichte, um sicherzustellen, dass die mutigen Kriegsgegner nicht auf die Straße zurückkehren“, erklärte Williamson. „Wenn Präsident Putin so ein Grundrecht – den Eckpfeiler der Demokratie – mit solch totalitären Taktiken verletzt, verzichtet er auf jeden weiteren Anschein, dass seine Regierung Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte oder Demokratie respektieren würde.“

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