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Russland: Rückzug von Tech-Unternehmen führt zu digitaler Isolation

Unternehmen und Regierungen sollten Menschenrechte wahren

Ein junger Mann mit Gesichtsmaske schaut auf sein Mobiltelefon im Staatlichen Russischen Museum, Sankt Petersburg, 26. Mai 2020. © 2020 Jesus Merida / SOPA Images/Sipa via AP Images

(Berlin) - Mehrere führende ausländischen Technologieunternehmen haben sich in den zwei Wochen seit der russischen Invasion in die Ukraine aus Russland zurückgezogen bzw. ihre Tätigkeiten dort eingestellt. Damit steigt das Risiko, dass die Menschen in Russland vom globalen Internet isoliert werden, erklärte Human Rights Watch heute.

Der Rückzug der Technologieunternehmen findet zu einer Zeit statt, in der russische Behörden verstärkt auf „souveränen Internets“ setzen, um den Zugang zu zahlreichen unabhängigen Medien und Social-Media-Plattformen zu blockieren. Diese Technologie ermöglicht es Russland, das gesamte Land digital zu isolieren. Ausländische Technologieunternehmen und Regierungen sollten sorgfältig prüfen, inwieweit ihr Handeln zur Abschaffung der verbleibenden Onlinefreiheit in Russland beiträgt. Sie sollten zudem Maßnahmen ergreifen, um gemäß ihrer menschenrechtlichen Verantwortung und Verpflichtungen unangemessene Einschränkungen der Rechte abzumildern.

„Millionen Menschen in Russland sind auf das Internet angewiesen, um sich über aktuelle Themen zu informieren und mit der Außenwelt zu kommunizieren – und das in einer Zeit beispielloser staatlicher Zensur“, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Ausländische Technologieunternehmen sollten versuchen, den Menschen in Russland weiterhin Dienstleistungen und Produkte anzubieten, um ihnen den Zugang zum Internet zu erleichtern und die Risiken einer Isolation zu mindern.“

Der Rückzug der Unternehmen fällt in eine Zeit, in der die russischen Behörden mit aller Härte gegen jede unabhängige Kriegsberichterstattung und jede Form öffentlicher Kritik an Russlands Militäroffensive in der Ukraine vorgehen – egal ob offline oder online.

Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar 2022 eine „besondere Militäroperation“ in der Ukraine angekündigt hatte, verhängten die Europäische Union, die USA, Großbritannien und weitere Länder eine Reihe beispielloser Sanktionen gegen Russland – sowohl sektorale als auch individuelle –, um die Behörden zu einem Ende der Militäroffensive in der Ukraine zu bewegen.

Am 29. Februar ersuchte die ukrainische Regierung die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), Russland vom globalen Internet abzuschneiden. Die ICANN lehnte den Antrag jedoch ab, da er „weder technisch durchführbar noch von ihrem Mandat gedeckt“ sei.

Die US-Sanktionen, die Geschäfte mit russischen Behörden und verschiedenen Einzelpersonen verbieten, betreffen Technologieunternehmen, die EU-Sanktionen richten sich speziell gegen Dual Use-Technologien und innovative Technologien. Es ist jedoch unklar, inwieweit diese Sanktionen es den Unternehmen erlauben, weiter moderne Kommunikationstechnologien zu liefern. Diese Ungewissheit scheint zu unterschiedlichen Reaktionen der in Russland tätigen ausländischen Technologieunternehmen zu führen.

Einige Unternehmen setzten bestimmte Aspekte ihrer Geschäftstätigkeiten in Russland aus, die nach Rücksprache mit den Regierungen und der Zivilgesellschaft unter die Sanktionen fielen.

Mehrere ausländische Unternehmen, von Softwareentwicklern bis hin zu großen Backbone-Anbietern, stellten ihre Tätigkeit in Russland ganz ein, wobei sie in einigen Fällen die Sanktionen als einen wichtigen oder den Hauptgrund angaben. Andere Unternehmen setzten aufgrund der Sanktionen bestimmte Aspekte ihrer Tätigkeit aus, kündigten aber an, sich „zusätzlich“ aus dem gesamten russischen Markt zurückzuziehen, offenbar auf eigene Initiative.

Seit dem 24. Februar haben die russischen Behörden zahlreiche russische und ausländische Medien, darunter Echo of Moscow, Dozhd, Meduza und BBC Russian Service, wegen ihrer Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine gesperrt.

Am 4. März sperrten die russischen Behörden den Zugang zu Facebook und Twitter wegen „Diskriminierung russischer Medien“ vollständig, weil diese die offiziellen Konten des russischen Staates und kremlnaher Medien in Europa mit Kennzeichnungen versehen und den Zugang zu ihnen eingeschränkt hatten. Am 11. März kündigten die Behörden an, auch Instagram in Russland ab dem 14. März vollständig zu sperren. Damit reagierten sie auf eine vorübergehende Ausnahme des Mutterkonzerns Meta von seiner Hate Speech-Richtlinie. Der Konzern hatte Beiträge von Nutzer*innen in der Ukraine geduldet, in denen zur Gewalt gegen russische Streitkräfte aufgerufen wurde.

Diese Sperrungen könnten durch die Deep Packet Inspection-Technologie erleichtert worden sein, die Diensteanbieter nach dem Gesetz über ein „souveränes Internet“ von 2019 von den installieren mussten. Diese Technologie ermöglicht es Russland, unerwünschte Inhalte direkt zu filtern.

Neben der Sperrung von Plattformen wurde mit diesem Gesetz ein rechtlicher Rahmen für die zentralisierte staatliche Verwaltung des Internets innerhalb der russischen Grenzen geschaffen. Der schränkt den Internetverkehr innerhalb und nach Russland ein, angeblich zum Schutz der Öffentlichkeit vor vage definierten „Bedrohungen der Sicherheit, Integrität und Nachhaltigkeit“ des Internets in Russland.

Die Sperrung von Websites und die potenzielle Abspaltung vom globalen Internet stehen im Widerspruch zu den Verpflichtungen Russlands, die freie Meinungsäußerung und den Zugang zu Informationen gemäß der internationalen Menschenrechtsnormen zu schützen und zu wahren.

Am 9. März forderte die führende russische Nichtregierungsorganisation für digitale Rechte, Roskomsvoboda, ausländische IT-Unternehmen auf, ihre Dienste in Russland weiterhin anzubieten, und wies darauf hin, dass ein Rückzug der Unternehmen unter anderem als „bequemer Vorwand für die russischen Behörden“ dienen könnte, um diese Maßnahmen als „Bedrohung” zu interpretieren und das Gesetz über das „souveräne Internet“ anzuwenden.

Am 7. März erklärte das russische Ministerium für Digitalisierung, es plane nicht, das russische Segment des Internets zu isolieren. Am Tag nach der Erklärung des Ministeriums wurden dessen eigene Website und mehrere andere offizielle Seiten gehackt. Daraufhin waren dort etwa eine Stunde lang nur Antikriegsbanner zu sehen. Die Regierung könnte solche Cyberangriffe, auch auf russische Regierungsseiten, als „Bedrohungen“ für das Internet in Russland im Rahmen des Gesetzes über das „souveräne Internet“ werten.

Der Rückzug ausländischer Technologieunternehmen, einschließlich ausländischer Registrare, die Domain-Namen und IP-Adressen verwalten, hat das Koordinierungszentrum für die nationalen Domains .RU und .PФ bereits dazu veranlasst, den Verwaltern dieser Domains zu empfehlen, zu Registrier- und Hostingstellen mit Sitz in Russland zu wechseln. Diese Maßnahmen könnten zwar den Weiterbetrieb dieser Websites ermöglichen, sie verstärken aber auch die Kontrolle der russischen Regierung über die Internet-Infrastruktur.

In einem Schreiben vom 10. März forderten 40 Menschenrechtsorganisationen, darunter Human Rights Watch, die US-Regierung unter Biden und gleichgesinnte Regierungen, die Russland und seine Verbündeten für die Übergriffe in der Ukraine sanktionieren wollen, auf, Unternehmen die Bereitstellung von Dienstleistungen, Software und Hardware für die persönliche Kommunikation über das Internet zu gestatten.

In der Zwischenzeit sollten die Unternehmen ihre Verantwortung für die Menschenrechte wahrnehmen und Maßnahmen ergreifen, um negative Auswirkungen auf die Menschenrechte abzumildern, wenn sie Entscheidungen treffen, die über das hinausgehen, was die Sanktionen der Regierungen vorschreiben.

„Die russische Zivilgesellschaft wehrt sich seit Jahren gegen die Bemühungen der russischen Regierung, das Internet zu zensieren und zu isolieren“, sagte Williamson. „Ausländische Technologieunternehmen und Regierungen sollten sorgfältig abwägen, inwieweit ihr Handeln dem Kreml in die Hände spielen könnte, wenn es zur zunehmenden Isolierung russischer Internetnutzer*innen beiträgt.“

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