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Menschen auf dem Weg durch den Grenzübergang Medyka in Polen, wo das Fehlen systematischer Schutzmaßnahmen Geflüchtete dem Risiko des Menschenhandels und anderer Ausbeutung aussetzt. © 2022 Christoph Soeder/picture alliance via Getty Images

(Brüssel) - Geflüchtete Menschen aus der Ukraine, insbesondere Frauen und Mädchen, sind aufgrund fehlender systematischer Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen in Polen einem erhöhten Risiko von geschlechtsspezifischer Gewalt, Menschenhandel und anderer Ausbeutung ausgesetzt.

„Polens Aufnahme von Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, steht in positivem Kontrast zu seiner Reaktion auf andere Krisen, aber das Fehlen grundlegender Schutzmaßnahmen birgt die Gefahr, dass die Geflüchteten schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt werden“, sagte Hillary Margolis, leitende Frauenrechtsforscherin bei Human Rights Watch. „Überlässt man diese Aufgabe ausschließlich Freiwilligen und Aktivist*innen, dann legt man die Sicherheit der Geflüchteten in die Hände von Menschen, die es zwar gut meinen, aber nicht über die notwendigen Systeme oder die notwendige Unterstützung verfügen.“

Seit dem 24. Februar 2022 sind mehr als 2,9 Millionen Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, in Polen angekommen. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren aufgrund des Kriegsrechts im Land bleiben müssen, um möglicherweise eingezogen zu werden.

Human Rights Watch recherchierte zwischen dem 22. und 29. März am Grenzübergang Medyka, an Bahnhöfen in Przemyśl, Krakau und Warschau sowie in Aufnahmezentren, darunter im Tesco-Aufnahmezentrum in Przemyśl, im Ptak Expo Center in Nadarzyn am Stadtrand von Warschau, auf dem Cinema City Gelände in Krakau und auf dem Rszeszow Full Market Gelände. Die Forscher*innen befragten 20 weibliche und minderjährige Geflüchtete, 5 Mitarbeiter*innen und 10 Ehrenamtliche in den Aufnahmestellen, 7 Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen, Vertreter*innen von 3 humanitären Hilfsorganisationen und einen stellvertretenden Polizeichef in Podkarpackie.

Human Rights Watch stellte hierbei uneinheitliche Schutzmaßnahmen und einen Mangel an staatlicher Koordinierung fest, was das Risiko von Menschenrechtsverletzungen, insbesondere für Frauen und Mädchen, erhöht. Freiwillige Helfer*innen, Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und UN-Organisationen sowie ein stellvertretender Polizeichef äußerten sich besorgt über das Fehlen systematischer Sicherheitsmaßnahmen oder von Mitteln zur Erkennung, Verhinderung und Reaktion auf geschlechtsspezifische Gewalt, darunter Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung und Vergewaltigung. Human Rights Watch hat sich am 31. März schriftlich an die polnische Regierung gewandt, um die Ergebnisse der Recherchen zu präsentieren und Informationen anzufordern. Bislang erfolgte jedoch keine Antwort.

Ein stellvertretender Polizeichef der Woiwodschaft (Region), die Medyka, Przemyśl und Korczowa umfasst, sagte, dass es keine registrierten Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt, einschließlich Menschenhandel oder anderer Ausbeutung, gegen Geflüchtete aus der Ukraine gebe. Andere Befragte sagten, es seien einige wenige Fälle gemeldet worden und das Bewusstsein für Bedrohungen sei hoch, aber es bestünden dennoch Risiken.

Ein Freiwilliger im Korczowa-Aufnahmezentrum in der Nähe des Grenzübergangs Krakovets sagte, dass das Chaos in dem Zentrum Risiken birgt, und beschrieb die Situation als „anfällig“ für geschlechtsspezifische Gewalt oder anderen Missbrauch: „Das [Sicherheits-]System ändert sich jeden Tag. An manchen Tagen ist die Polizei hier und kontrolliert, wer rein- und rausgeht, manchmal können die Leute einfach reinspazieren.“

Einige Geflüchtete sind bereits mit potenzieller Ausbeutung oder Missbrauch konfrontiert worden. Eine 29-jährige Frau aus Kiew erzählte, dass die Manager eines Clubs, in dem sie in Ostpolen einen Job als Tänzerin angenommen hatte, versuchten, sie zur Sexarbeit zu zwingen und ihr den Lohn kürzen wollten, als sie sich weigerte.

Die befragten Personen bestätigten, dass die Mitarbeitenden in den Aufnahmestellen für Geflüchtete, bei denen es sich zumeist um Freiwillige handelte, nicht darin geschult waren, Anzeichen für Sicherheitsrisiken für Frauen und Mädchen zu erkennen, wie etwa Menschenhandel oder andere Ausbeutung. Da es keine Protokolle und Prozesse gibt zur Verhinderung oder Reaktion auf geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, liegen diese im Ermessen von meist unerfahrenen Personen.

Es wurden keine systematischen Maßnahmen innerhalb der Standorte oder standortübergreifend ergriffen, um private Verkehrsmittel oder Unterkünfte zu überprüfen oder zu gewährleisten, dass die Geflüchteten sicher ans Ziel kommen, und es gibt keine klaren Systeme zur Meldung entsprechender Sicherheitsbedenken. Die Schwierigkeit, eine längerfristige Unterkunft zu finden und zu bezahlen, bringt einige Geflüchtete allmählich in arge Bedrängnis.

Internationale Leitlinien fordern eine Risikominderung für geschlechtsspezifische Gewalt von Beginn der Krisenreaktion an, darunter Präventionsmaßnahmen, Meldesysteme und Angebote für Überlebende von Gewalt wie etwa Menschenhandel oder andere Ausbeutung.

Die Regierung sollte unverzüglich einheitliche Protokolle entwickeln und umsetzen, die den Schutz in den Aufnahmestellen und bei allen Transporten und Unterkünften für Geflüchtete gewährleisten, so Human Rights Watch. Alle Geflüchteten sollten klare Informationen darüber erhalten, wie sie Risiken mindern, Hilfe suchen und Vorfälle melden können.

Die Regierung sollte mit erfahrenen humanitären Hilfsorganisationen und spezialisierten Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten, um das Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt für Geflüchtete, einschließlich Menschenhandel und andere Ausbeutung, zu verringern und eine angemessene Identifizierung der Opfer und die Bereitstellung von Hilfsangeboten für Überlebende sicherzustellen. Allen Überlebenden von Gewalt in Polen sollten entsprechende Angebote, einschließlich einer umfassenden Nachsorge nach einer Vergewaltigung, zur Verfügung stehen. Dazu zählen auch die Möglichkeit der Notfallverhütung und der Abtreibung.

Die Europäische Union sollte sicherstellen, dass die Gelder, die Polen für die Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine erhält, bei denjenigen ankommen, die die wesentlichen Dienste koordinieren und bereitstellen, einschließlich erfahrener, unabhängiger Nichtregierungsorganisationen.

„Je länger die Geflüchteten aus der Ukraine in Polen bleiben, desto größer ist die Gefahr, dass sie ausgebeutet oder missbraucht werden“, sagte Margolis. „Polens Regierung sollte ihre Verantwortung für die Sicherheit der Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, wahrnehmen und jetzt Maßnahmen ergreifen, um Unterbringung, Transport und Beschäftigung so sicher wie möglich zu machen.“

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