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FIFA: Entschädigung an Wanderarbeiter*innen in Katar auszahlen

Globale Koalition fordert finanzielle Entschädigung für Todesfälle und Lohndiebstahl

(London) – Hunderttausende von Wanderarbeiter*innen in Katar haben weder eine finanzielle Entschädigung noch andere angemessene Abhilfemaßnahmen für schwere Arbeitsrechtsverstöße erhalten, die sie beim Bau und der Instandhaltung der Infrastruktur für die im November 2022 beginnenden FIFA-Fußball-Weltmeisterschaften erlitten haben, so Human Rights Watch heute.

Am 19. Mai forderten Human Rights Watch, Amnesty International, FairSquare und eine globale Koalition von Migrant*innenrechtsgruppen, Gewerkschaften, internationalen Fußballfans, Betroffene von Arbeitsrechtsverstößen sowie Unternehmensverbände und Organisationen für den Schutz von Rechten, dass die Fédération Internationale de Football Association (FIFA) und die Regierung von Katar Abhilfe für die schwerwiegenden Missstände schaffen sollten, denen Wanderarbeiter*innen seit der Vergabe der Weltmeisterschaft 2022 im Jahr 2010 ausgesetzt waren. Dazu gehören Tausende von ungeklärten Todesfällen und Verletzungen, Lohndiebstahl und exorbitante Anwerbegebühren. Human Rights Watch hat eine globale Kampagne mit dem Titel #PayUpFIFA gestartet, um der Forderung der Koalition Nachdruck zu verleihen. Amnesty International hat einen Bericht mit dem Titel „Predictable and Preventable“ (dt. etwa: Vorhersehbar und Vermeidbar) veröffentlicht, in dem dargelegt wird, wie die FIFA und Katar die seit zwölf Jahren bestehenden Missstände beseitigen können.

„Die FIFA und Katar haben die für die WM 2022 unverzichtbaren Gastarbeiter im Stich gelassen. Aber sie können denjenigen, die schwer geschädigt wurden, sowie den Familien der vielen Toten eine Entschädigung zukommen lassen“, sagte Minky Worden, Direktorin für globale Initiativen bei Human Rights Watch. „Die FIFA sollte sofort die notwendigen Mittel für eine angemessene Wiedergutmachung bereitstellen und das Vermächtnis einer ‚Weltmeisterschaft der Schande‘ vermeiden.“

In den letzten zehn Jahren haben Menschenrechtsgruppen wiederholt die weit verbreiteten Rechteverletzungen dokumentiert, die Arbeiter*innen im Rahmen des Sponsoring- oder Bürgschaftssystems Kafala in Katar, das Zwangsarbeit Vorschub leistet, erlitten haben. Die Situation besteht trotz der Arbeitsreformen fort, die die Behörden von Katar in den letzten Jahren als Reaktion auf eine Klage wegen Zwangsarbeit bei der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) umgesetzt haben. Erst im März dieses Jahres dokumentierte Human Rights Watch Fälle von Lohndiebstahl über einen Zeitraum von bis zu fünf Monaten bei einem bekannten, in Katar ansässigen Handels- und Bauunternehmen, das an FIFA-Projekten beteiligt ist.

Der Bau und die Instandhaltung von WM-Stadien unterliegen weltweit strengen Kontrollen und Standards. Wenn Arbeiter*innen, die dort beschäftigt sind, nicht angemessen geschützt werden, liegt es auf der Hand, dass Arbeiter*innen, die nicht an solchen Projekten beteiligt sind, einem noch größeren Risiko von Arbeitsrechtverstößen ausgesetzt sind. Darüber hinaus gibt die prekäre Menschenrechtslage in Katar Anlass zu weiteren ernsthaften Bedenken. Dazu gehören strenge Einschränkungen der Meinungsfreiheit und des Versammlungsrechts sowie politische Maßnahmen, die Frauen diskriminieren und sogar Gewalt gegen sie billigen, sowie ein repressives Umfeld für LGBT-Personen, die im Land leben oder die Spiele besuchen.

Als die FIFA Katar den Zuschlag für die Spiele 2022 erteilte, wusste sie oder hätte wissen müssen, dass die Wanderarbeiter*innen, die die riesige Infrastruktur bauen, schwerwiegenden Menschenrechtsrisiken ausgesetzt sein würden. Dennoch hat die FIFA weder arbeitsrechtliche Auflagen gemacht noch eine wirksame menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung durchgeführt, so Human Rights Watch.

Für Manju Devi, eine 38-jährige Nepalesin, deren 40-jähriger Ehemann Kripal Mandal 2022 als Wanderarbeiter in Katar starb, besteht das einzige „Vermächtnis“ der bevorstehenden Weltmeisterschaft aus den ausstehenden Krediten, die ihr Mann aufgenommen hat, um die Arbeit zu bezahlen, bei der er starb. Wie die meisten Arbeitsmigrant*innen in Katar hatte Mandal sich Geld zu exorbitanten Zinssätzen geliehen, um die Anwerbegebühren zu bezahlen – Schulden, die immer weiter wachsen. Obgleich es in Katar verboten ist, von Wanderarbeiter*innen Anwerbegebühren und damit verbundene Kosten zu verlangen, setzt die Regierung diese Vorschrift nur selten durch.

Mandals Familie sagte, er habe im Baugewerbe für eine Zulieferfirma gearbeitet, die ihn für den Flughafen und die Stadien eingesetzt habe. Seine Frau ringt noch immer damit, seinen Tod durch Herzinfarkt zu begreifen. „Ich kann nicht sagen, woran er starb“, sagte Devi gegenüber Human Rights Watch. „Wir können nicht sagen, ob es die Ursache ist, die sie angegeben haben, oder etwas anderes … Am Abend hat er noch normal geredet und gelacht, … aber am nächsten Morgen starb er gegen 3 Uhr morgens.“

Die Familie erhielt keine Entschädigung für seinen Tod, und sein Arbeitgeber zahlte nicht einmal die 15 Tage Gehalt, die ihm vertraglich zustanden. Devi, eine Mutter von fünf Kindern, sagte: „Als er noch lebte, konnten wir sicher sein, dass einer von uns etwas verdient. Jetzt, nachdem er gestorben ist, haben wir niemanden mehr, der das Brot verdient. Es ist sehr schwierig.“

„Katars Reformen im Bereich der Arbeitnehmerrechte kamen sehr spät in der Vorbereitung auf die Fußballweltmeisterschaft, sind völlig unzureichend und werden nur unzureichend durchgesetzt“, so Worden. „Viele Wanderarbeiter starben, weil es in Katar keinen Menschenrechtsrahmen gab, der die Arbeiter schützte und es ihnen ermöglichte, gefährliche Arbeitsbedingungen, Lohnbetrug und Zwangsarbeit zu melden. Es kann nicht sein, dass Arbeiterinnen und Arbeiter sterben müssen, um die Weltmeisterschaft oder andere Mega-Sportereignisse auszurichten.“

2016 bekannte sich die FIFA zu den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte und verankerte ihre Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte in den FIFA-Statuten. Außerdem hat sie einen unabhängigen Menschenrechtsbeirat eingerichtet, Mitarbeiter*innen für den Schutz der Menschenrechte eingestellt und einen Beschwerdemechanismus für Menschenrechtsverteidiger*innen geschaffen. Im Jahr 2017 verabschiedete die FIFA eine Menschenrechtspolitik, nach der die Menschenrechtsverpflichtungen für alle FIFA-Organe und -Funktionäre gelten.

Trotz dieser positiven Entwicklungen muss die FIFA den Wanderarbeiter*innen, deren Rechte schwerwiegend verletzt wurden, oder ihren Familien Entschädigung leisten. Die Verantwortung umfasst sowohl Arbeiter*innen, die direkt an WM-Projekten beteiligt waren, als auch solche, die mit ihrer Arbeit die Vorbereitung und Durchführung der Spiele auf verschiedenste Weise ermöglicht haben, unter anderem in den Bereichen Transport, Unterkünfte, Sicherheit und Reinigung.

Die FIFA muss in den sechs Monaten vor der Weltmeisterschaft 2022 gemeinsam mit den Behörden in Katar einen umfassenden Mechanismus zur Beseitigung von Missständen bei Wanderarbeiter*innen einrichten. Human Rights Watch, Amnesty International, Fair Square und die anderen Mitglieder der Koalition fordern, dass die FIFA mindestens 440 Millionen US-Dollar – ein Betrag, der dem Preisgeld für die Mannschaften der Weltmeisterschaften 2022 entspricht – in einen Fonds zur Entschädigung der Arbeiter*innen und zur Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes investiert.

Der Abhilfemechanismus sollte auf partizipatorische Weise nach Konsultation der Betroffenen, einschließlich der Wanderarbeiter*innen, der Familienangehörigen der Opfer und Gewerkschaften, eingesetzt werden. Außerdem sollte er für Arbeiter*innen und ihre Familien, von denen sich wahrscheinlich viele nicht mehr in Katar aufhalten werden, leicht zugänglich sein und rechtzeitig Abhilfe für die gänzlich unterschiedlichen, seit 2010 nicht behobenen Missstände schaffen.

Spieler*innen, Fans, FIFA-Sponsoren, nationale Fußballverbände und andere können eine wichtige Rolle dabei spielen, dass diese Weltmeisterschaften ein positives Vermächtnis hinterlassen, indem sie Unterstützung für einen Entschädigungsfonds fordern, um den Schaden für Wanderarbeiter*innen wiedergutzumachen, so Human Rights Watch.

„Der Tod von Wanderarbeitern in Katar hat ihre Familien emotional und finanziell stark belastet“, so Worden. „Im Einklang mit den Menschenrechtsverpflichtungen der FIFA und Katars Verpflichtungen müssen sie den Wanderarbeitern, die beim Bau der Weltmeisterschaftsinfrastruktur zu Schaden gekommen sind, eine finanzielle Entschädigung zukommen lassen, um den betroffenen Familien eine finanzielle Atempause zu verschaffen.“

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