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Ein verlassenes russisches gepanzertes Fahrzeug parkt neben einem Haus im Dorf Yahidne, 17. April 2022. © 2022 Belkis Wille/Human Rights Watch

(Kiew) – Russische und ukrainische Streitkräfte haben die Zivilbevölkerung in der Ukraine unnötigerweise Gefahren ausgesetzt, indem sie ihre Soldat*innen in bewohnten Gebieten stationiert haben, ohne die Bewohner*innen in Sicherheit zu bringen, so Human Rights Watch heute. Das humanitäre Völkerrecht – also das im Kriegsfall anwendbare Recht – verpflichtet die Konfliktparteien, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, um Zivilist*innen und zivile Einrichtungen unter ihrer Kontrolle vor den Folgen von Angriffen zu schützen.

In vier Fällen, die Human Rights Watch untersucht hat, errichteten russische Streitkräfte Militärstützpunkte in bewohnten Gebieten und setzten die Zivilbevölkerung damit unnötigerweise Gefahren aus. In drei Fällen errichteten ukrainische Streitkräfte Stützpunkte in Häusern, in denen Menschen lebten, offenbar ohne die Bewohner*innen vorher an sicherere Orte gebracht zu haben. Bei den anschließenden Angriffen auf diese Stützpunkte wurden Zivilist*innen getötet und verwundet. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat verschiedene Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Angriffen veröffentlicht, darunter: „der Bau von Unterkünften, das Ausheben von Gräben, die Verbreitung von Informationen und Warnungen, die Verbringung der Zivilbevölkerung an sichere Orte, die Umlenkung des Verkehrs, die Bewachung von zivilem Eigentum und die Mobilisierung von Zivilschutzorganisationen.“

„Während der Krieg in der Ukraine weitertobt, werden Zivilisten unnötigerweise in die Kämpfe verwickelt“, sagte Belkis Wille, Senior Researcher im Bereich Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Streitkräfte müssen davon absehen, ihre Truppen unter Zivilisten zu stationieren, und alles in ihrer Macht Stehende tun, um Zivilisten in benachbarten Gebieten in Sicherheit zu bringen.“

Zwischen dem 17. April und dem 31. Mai 2022 befragte Human Rights Watch 54 Zivilist*innen in ukrainischen Städten und Dörfern wie Mykhailo-Kotsiubynske und Yahidne in der nördlichen Region Tschernihiw, Malaya Rohan, Pokotylivka, Selekstiine und Yakovlivka in der östlichen Region Charkiw und in Polohy in der südlichen Region Saporischschja. Die Researcher*innen besuchten alle diese Orte mit Ausnahme von Polohy, da die Kämpfe dort noch andauern, befragten aber Bewohner*innen, die aus dem Dorf geflohen waren.

In Yahidne hielten russische Streitkräfte fast 350 Zivilist*innen einen Monat lang illegal im Keller eines Schulgebäudes nahe der Frontlinie fest, das die Russen als Militärbasis nutzten. Bei ukrainischen Angriffen in diesen Gebieten wurden Häuser und andere Gebäude beschädigt.

In Malaya Rohan richteten russische Streitkräfte einen Stützpunkt auf einem Bauernhof ein, wo sie Dutzende von Militärfahrzeugen abstellten. Die Soldat*innen hinderten die Zivilbevölkerung rechtswidrig daran, das Gebiet zu verlassen. Am 26. März kam es zu einem Artilleriebeschuss, bei dem ein nahe gelegener Bauernhof beschädigt und 140 Tiere getötet wurden.

In Pokotylivka errichteten die ukrainischen Streitkräfte einen Stützpunkt in einem Seuchenkontrollzentrum in einem Wohnviertel, ohne die Zivilbevölkerung vorher in Sicherheit gebracht zu haben. Als die russischen Streitkräfte das Zentrum am 28. April angriffen, wurden mindestens sechs Zivilist*innen verwundet und Dutzende Häuser in der Nähe sowie die örtliche Schule beschädigt.

Anfang März begannen etwa 300 ukrainische Soldat*innen, das Kulturzentrum im Dorf Selekstiine als Kaserne zu nutzen, ohne die Zivilbevölkerung in andere Gebiete zu bringen. Etwa 10 Tage später wurde das Zentrum von schwerer Munition getroffen, die es vollständig zerstörte und viele umliegende Gebäude beschädigte.

Ab Ende Februar nutzten die ukrainischen Streitkräfte die örtliche Schule und die Gemeindegebäude im Dorf Jakowliwka als Militärstützpunkt und Kaserne, während die Zivilbevölkerung in dem Gebiet blieb. Am 2. März schlugen mehrere Geschosse in das Dorf ein, töteten 4 Zivilist*innen, verletzten mindestens 10 weitere und zerstörten und beschädigten Dutzende Häuser.

Human Rights Watch schrieb am 6. Mai an das russische und das ukrainische Verteidigungsministerium und bat um Informationen über die Maßnahmen, die die Streitkräfte ergreifen, um zivile Opfer zu minimieren, Zivilist*innen in der Nähe vor Kampfhandlungen in Sicherheit zu bringen und die Stationierung von Truppen in dicht besiedelten Gebieten zu unterlassen. Keine der Seiten hat geantwortet.

Das während des internationalen bewaffneten Konflikts in der Ukraine geltende Kriegsrecht ist in den Genfer Konventionen von 1949, dem Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen (Protokoll I) und dem Völkergewohnheitsrecht verankert. Artikel 58 des Protokolls I über „Vorsichtsmaßnahmen gegen die Wirkungen von Angriffen“ verpflichtet die Konfliktparteien, „soweit dies praktisch irgend möglich ist“ die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um einzelne Zivilpersonen und zivile Objekte, die ihrer jeweiligen Verantwortung unterstehen, vor den mit Kriegshandlungen verbundenen Gefahren zu schützen, militärische Ziele nicht innerhalb oder in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten anzulegen und zu versuchen, einzelne Zivilpersonen und zivile Objekte unter ihrer Kontrolle aus der Nähe militärischer Ziele zu entfernen. Die Umsiedelung von Zivilist*innen muss mit dem kriegsrechtlichen Verbot von Zwangsverlegungen in Einklang stehen, es sei denn, es liegen legitime Sicherheitsgründe vor.

In den Bestimmungen der Russischen Föderation von 2001 über die Anwendung des humanitären Völkerrechts heißt es: „In größtmöglichem Umfang […] sind Vorkehrungen zu treffen, um die Zivilbevölkerung, einzelne Zivilpersonen und zivile Objekte vor den Auswirkungen von Kampfhandlungen zu schützen.“ Der ständige Vertreter Russlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erklärte 2008: „Der Schutz der Zivilbevölkerung muss für die an Konflikten beteiligten Regierungen höchste Priorität haben. Wir betonen, dass alle Parteien eines bewaffneten Konflikts die Verantwortung für die Gewährleistung der Sicherheit der Zivilbevölkerung tragen.“

Im Handbuch zum Humanitären Völkerrecht der Ukraine von 2004 heißt es:

Zivilpersonen und zivile Objekte sind von den Orten militärischer Ziele zu entfernen. Zu diesem Zweck treffen die Befehlshaber […] alle Maßnahmen, um mit den örtlichen Behörden zusammenzuarbeiten. Der Abtransport von Zivilpersonen aus Gebieten in der Nähe militärischer Ziele erfolgt in sichere, ihnen bekannte Gebiete. Angriffen, welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehen können, muss eine wirksame Warnung vorausgehen, es sei denn, die gegebenen Umstände erlauben dies nicht (z. B. für die Evakuierung von Personen aus bestimmten Gebäuden oder Gebieten).

Die angreifenden Streitkräfte sind zwar nicht daran gehindert, Angriffe auf militärische Ziele durchzuführen, wenn die verteidigenden Streitkräfte nicht alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen treffen, doch sind sie verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten. Dazu gehört es, auf wahllose Angriffe zu verzichten sowie auf Angriffe, die dem Leben oder dem Eigentum von Zivilist*innen unverhältnismäßigen Schaden zufügen würden.

„Die russischen und ukrainischen Streitkräfte müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um Zivilisten in ihrer unmittelbaren Nähe zu helfen, sich in Sicherheit zu bringen oder auf andere Weise das Risiko zu minimieren, dass sie zu Schaden kommen“, erklärte Wille. „Es reicht nicht aus, nichts zu tun und zu hoffen, dass keine Zivilisten zu Schaden kommen.“

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