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Echt oder gefälscht? Überprüfung von Videobeweisen aus Israel und Palästina

Wie das Digital Investigations Team von HRW Beweise sammelt

Ein Mann filmt mit seinem Handy, wie Raketen aus Gaza-Stadt in Richtung Israel fliegen, 7. Oktober 2023. © 2023 MOHAMMED ABED/AFP via Getty Images

Dieser Artikel enthält Beschreibungen von Gewalt sowie Ausschnitte und Links zu grafischem Bild- und Videomaterial, das auf manche verstörend wirken kann.

Als am frühen Samstagmorgen bekannt wurde, dass Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen aus dem Gazastreifen den Grenzzaun durchbrochen und im Süden Israels Hunderte Zivilist*innen, darunter auch Kinder, massakriert hatten, wurden auch in den sozialen Medien erste Videos dazu gepostet. Bis zum Ende des Tages waren weitere Videos aufgetaucht, während Israel die belagerte, dicht besiedelte Enklave, in der es für die Zivilbevölkerung kaum Schutzräume gibt, mit Luftangriffen bombardierte.

Verifizierte Dashcam-Aufnahmen vom Morgen des 7. Oktober 2023, die auf Telegram geteilt wurden.Sie zeigen einen Mann mit Schusswaffe, der einen blutüberströmten Mann als Geisel nimmt und einen unbewaffneten Mann - wahrscheinlich tödlich - aus nächster Nähe auf dem Gelände des Supernova-Musikfestivals in der Nähe des Kibbuz Re'im in Südisrael trifft.         © 2023 South First Responders via Telegram

Die Bilder sind schockierend: Einige zeigen junge Menschen, die ein Musikfestival besucht hatten. Sie rennen um ihr Leben und schreien vor Angst, während Schüsse fallen. Ein Video zeigt einen bewaffneten Palästinenser, der eine Handgranate in einen öffentlichen Bunker an einer Bushaltestelle wirft und auf einen unbewaffneten Mann, der herausrennt, schießt; ein weiteres Video zeigt einen Militanten, der einen Mann in Zivilkleidung aus nächster Nähe erschießt. Weiteres Videomaterial zeigt Geiseln, von denen einige über die Grenze nach Gaza verschleppt wurden: eine junge israelische Frau, die auf einem Motorrad um Gnade fleht; eine Mutter, die sich an ihre beiden kleinen Kinder klammert; eine Gruppe Zivilist*innen ohne Schuhe, die gewaltsam eine Straße hinuntergetrieben wird. Ihre zusammengekauerten, regungslosen Körper sind später verstreut auf dem Boden zu sehen.

Aus dem Gazastreifen wurden Fotos und Videos geteilt, welche die Zerstörung und die durch israelische Angriffe getöteten Zivilist*innen zeigen. Es gibt Fotos und Videos von Stadtvierteln, die in Schutt und Asche gelegt wurden, sowie von vertriebenen Familien, die unter Schock dort auftauchten, wo einst ihre Häuser standen. Und es gab zahlreiche Videos von Menschen, die in Todesangst schrien, während sie tote Kinder hielten, blutüberströmte Zivilist*innen in Krankenhäuser brachten und leblose Körper aus zerstörten Häusern zogen.

Jedes Video wurde von uns analysiert. Wir prüften, wann und wo es jeweils aufgenommen wurde und was genau zu sehen war. Die Videos waren erschütternd, und sie waren echt.

Neben diesen authentischen Videos gelangten aber auch sowohl subtile als auch offenkundige Unwahrheiten in Umlauf. Einige Fehlinformationen, die mutmaßlich aus Israel, dem Gazastreifen, dem Libanon und anderen Ländern stammen, scheinen gezielt und vorsätzlich verbreitet worden zu sein: gefälschtes Filmmaterial, manipulierte Videos, falsche Übersetzungen, realistisch anmutende Sequenzen aus Videospielen und mehr. Vieles wurde aber anscheinend auch unbeabsichtigt von Journalist*innen, Beamt*innen und besorgten Bürger*innen weitergegeben. Dazu gehören Aufnahmen aus früheren Konflikten, falsche Standortbestimmungen oder ein falscher Kontext.

Zudem gibt es zahlreiche Berichte, in denen von schwerwiegenden Übergriffen die Rede ist, die jedoch nicht unbedingt verifiziert werden können, darunter der Einsatz von weißem Phosphor und die Enthauptung von Kindern.

Ein Standbild aus einem grafischen Video, das der Fotograf Motaz Azaiza am 10. Oktober auf Instagram geteilt hat. Es zeigt tote und schwer verletzte Kinder vor dem Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza nach israelischen Militärangriffen.         © 2023 @motaz_azaiza via Instagram

Hier kommt das Digital Investigations Lab von Human Rights Watch ins Spiel, das eng mit den Kolleg*innen unserer Abteilung für den Nahen Osten und Nordafrika sowie unserem Krisen- und Konfliktteam zusammenarbeitet, darunter auch mit Researcher*innen vor Ort. Seit Samstagmorgen, als die ersten Videos von Gräueltaten auftauchten, haben wir wichtige Informationen gesammelt, geordnet, verifiziert und kontextualisiert, um unsere Recherchen zu stützen. Wir untersuchen mögliche Kriegsverbrechen in Israel, wo die Menschen angesichts der enormen Verluste an Menschenleben, die als Massaker bezeichnet werden können, noch immer fassungslos sind, und im Gazastreifen, wo mehr als 2,2 Millionen Menschen einer kompletten Belagerung und nahezu ständig Luftangriffen ausgesetzt sind.

Ganz gleich, ob es um die Untersuchung von Gräueltaten im Sudan, in der Ukraine oder an der Grenze zwischen Jemen und Saudi-Arabien geht, unsere Methodik für die Durchführung von Open-Source-Recherchen in Krisenfällen ist immer dieselbe.

  1. Entdecken: Wir fragen Researcher*innen, welche Plattformen in einer Region oder an einem Ort am meisten genutzt werden, auf die wir zugreifen können und wie wir dies unter Berücksichtigung der Sicherheit unserer Forschungsteams und unserer Quellen tun können. Seit Samstag ist ein Großteil der eingehenden Inhalte auf der Social-Media-Messaging-Plattform Telegram erschienen. Wir wissen, wie wir diese Plattformen durchsuchen können, um im Idealfall die Originalquellen der Videos und Fotos zu identifizieren, sobald sie auftauchen.

     

  2. Dokumentieren: Um ein analytisches Bild von dem zu erhalten, was wir vor Ort sehen, müssen wir sicherstellen, dass wir die Daten in Echtzeit dokumentieren. Wir stellen sicher, dass alle unsere Researcher*innen Zugang zu unseren Dokumentationstools haben und dass wir Videos und Fotos systematisch klassifizieren. Diese Dokumentation wird, wann immer dies möglich ist, mit Recherchen vor Ort zusammengeführt, um solide Untersuchungen durchzuführen.

     

  3. Sichern: Häufig werden Konten auf Social-Media-Plattformen, insbesondere solche mit grafischen Inhalten, gelöscht, oder die Nutzer*innen entscheiden sich selbst, bestimmte Inhalte zu löschen. Wie Human Rights Watch bereits gezeigt hat, haben Social-Media-Plattformen in den letzten Jahren Online-Inhalte immer häufiger und schneller gelöscht, sodass bestimmte Inhalte nicht verwendet werden konnten, um Recherchen zu Personen anzustellen, die der Beteiligung an schweren Verbrechen, einschließlich Kriegsverbrechen, verdächtigt werden. Wir stellen sicher, dass wir Kopien von Social-Media-Beiträgen, Videos und Fotos erstellen und sichern, damit wir sie bei Untersuchungen als Beweismittel verwenden können.

     

  4. Verifizieren: Handelt es sich um authentisches Material? Aufgrund der vielen Falschinformationen, die in den sozialen Medien verbreitet werden, ist die Verifizierung ein sehr wichtiger Schritt. Wir stellen fest, wo ein Foto aufgenommen wurde und wo die festgehaltenen Ereignisse stattgefunden haben. Diesen Vorgang nennen wir Geolokalisierung. Wir identifizieren in den Videos sichtbare Orientierungspunkte wie Wanderwege, Berggipfel und Flussbetten und gleichen sie mit Satellitenbildern oder topografischen Karten der Grenze ab. Anschließend überprüfen wir den Zeitraum, in dem der Inhalt aufgenommen wurde, was wir Chronolokalisierung nennen. Hierfür suchen wir nach dem frühesten Datum, an dem ein Video oder Foto online geteilt wurde, wir analysieren Schatten, um die Tageszeit zu bestimmen, oder wir gleichen das Aussehen von Landmarken ab, die sich im Laufe der Zeit verändern, wie z.B. Gebäude oder Bäume, um sicherzustellen, dass die jüngsten Satellitenbilder mit dem übereinstimmen, was wir überprüfen wollen. Um sicherzustellen, dass wir den Kontext verstehen, arbeiten wir mit Kolleg*innen zusammen, welche die lokalen Sprachen sprechen, die in den Videos zu hören sind, und mit Expert*innen, die feststellen können, welche Waffen getragen werden oder welche Uniformen zu sehen sind. Auf diese Weise können wir uns ein umfassendes Bild von der Authentizität eines Videos oder Fotos machen.
  5. Analysieren: Anschließend analysieren wir den Inhalt und suchen nach Mustern oder Hinweisen darauf, dass der Inhalt andere Rechercheergebnisse unterstützt. So stellen wir u.a. fest, wer in einem Video zu sehen ist, z.B. Zivilist*innen, Kinder, ältere Menschen, welche Waffen eingesetzt werden, welche Art von Verletzungen die Opfer erlitten haben, ob es militärische Ziele in der Umgebung gibt und so weiter. Dies hilft uns zu verstehen, welche Feststellungen wir nach internationalem Recht treffen können und welche Beweise wir haben, die von der Open-Source-Forschung unterstützt werden.

Wie bei allen unseren Recherchen ist dies ein sorgfältiger, zeitaufwändiger und somit oft langwieriger Prozess. Angesichts der Menge an Videos und Fotos, die täglich online gestellt werden, ist dies eine überaus wertvolle Informationsquelle für unsere Arbeit. Aber es bedeutet auch, dass wir regelmäßig mehrere Hundert Inhalte für einen bestimmten Forschungsteil sammeln und analysieren. Vorrangig analysieren wir Hunderte von Bildern und Videos aus dem aktuellen Konflikt zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen, bei dem seit Samstag mehr als 1200 Israelis und Ausländer*innen in Israel und 1000 Palästinenser*innen getötet worden sein sollen.

In den kommenden Wochen und Monaten werden wir unsere Forschungsergebnisse in Zusammenarbeit mit den Researcher*innen vor Ort weitergeben. Wir sind dabei, eine Reihe von Beweisen zu sammeln, um die sich ausbreitenden Missstände zu dokumentieren. Unsere Aufgabe ist es, ein umfassendes Bild der Menschenrechtsverletzungen zu entwickeln, die begangen wurden und werden, und darüber, wer zur Rechenschaft gezogen werden sollte.

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