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Das Einschlagmuster auf dem Boden nach der Detonation einer explosiven Submunition, einer von mindestens einem Dutzend in der Gegend, vor der Frauenambulanz des Städtischen Entbindungskrankenhauses Nr. 1 in Charkiw, nach einem Angriff auf ein bewohntes Viertel in Charkiw am 23. Mai, der das Krankenhaus beschädigte. 27. Mai 2022. © 2022 Belkis Wille/Human Rights Watch

(Kiew) – Russische Streitkräfte haben Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, wiederholt rechtswidrig angegriffen. Hierbei wurden Zivilist*innen getötet oder verwundet und medizinische Einrichtungen und Wohnhäuser beschädigt, so Human Rights Watch. Alle von Human Rights Watch dokumentierten Angriffe wurden in Wohngebieten verübt, wobei wahllos Sprengwaffen mit weitreichender Wirkung und weithin geächtete Streumunition eingesetzt wurden. Dies stellt offenkundig einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht bzw. das Kriegsrecht dar.

Bei jüngsten Besuchen in Charkiw und der Nachbarstadt Derhatschi dokumentierte Human Rights Watch acht rechtswidrige Angriffe, bei denen 12 Zivilist*innen getötet, 26 weitere verwundet und mindestens 5 Krankenhausgebäude beschädigt wurden - nur ein Bruchteil der Angriffe, die seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 in der Region Charkiw gemeldet wurden. Soweit Human Rights Watch feststellen konnte, haben die russischen Streitkräfte bei keinem der dokumentierten Angriffe, von denen drei mit Streumunition ausgeführt wurden, die nach dem Kriegsrecht erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung zu minimieren.

„Die russischen Streitkräfte haben Charkiw und die umliegenden Gebiete unter Beschuss genommen und dicht besiedelte Wohnviertel mit wahllos operierenden Waffen angegriffen“, sagte Belkis Wille, leitende Krisen- und Konfliktforscherin bei Human Rights Watch. „In den von uns dokumentierten Fällen scheinen die russischen Streitkräfte praktisch keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung und das Kriegsrecht genommen zu haben.“

Nach Angaben des stellvertretenden Staatsanwalts der Region Charkiw, Andrij Krawtschenko, wurden bei Hunderten von Angriffen der russischen Streitkräfte in der Region seit Ende Februar mindestens 1.019 Zivilist*innen, darunter 52 Kinder, getötet und 1.947 weitere verwundet, darunter 152 Kinder.

Zwischen dem 24. Mai und dem 28. Juni hat Human Rights Watch die Schauplätze von acht dieser Angriffe inspiziert, darunter drei in Charkiw und fünf in Derhatschi. Zudem sprach Human Rights Watch mit 28 Personen, darunter 22 Zeug*innen der Angriffe, Krankenhauspersonal, Vertreter*innen des Staatlichen Rettungsdienstes und Mitglieder der örtlichen Staatsanwaltschaft. Einige Personen baten darum, nicht namentlich erwähnt zu werden, da sie um ihre Sicherheit fürchten.

 

Am 12. Mai wurden zwei ehrenamtliche Helfer*innen verletzt, als eine Streumunitionsrakete das Dach eines Kulturzentrums in Derhatschi durchschlug, in dem Mitarbeiter*innen Lebensmittel und andere Hilfsgüter für die Anwohner*innen vorbereiteten. Etwa zur gleichen Zeit schlug Submunition - möglicherweise von derselben Rakete - im Garten eines Ehepaars ein, das etwa einen Kilometer entfernt wohnte. Beide wurden hierbei getötet. Am 23. Mai traf ein Angriff mit Streumunition die Ambulanz einer Geburtsklinik in der Stadt Charkiw. Dabei wurde ein Mann an einer Bushaltestelle vor dem Klinikgebäude verletzt und die Fassade, die Fenster und die Apotheke des Gebäudes beschädigt.

 

Am 26. Mai wurde ein 63-jähriger Spaziergänger getötet, als eine Munition im Park des Platzes des 23. Augusts in Charkiw einschlug. Etwa einen Kilometer entfernt gab eine Frau, die gerade eine neue Stelle in einem Friseursalon angetreten hatte, an, dass ihr Ehemann, der sie nach Hause bringen wollte, und ihr vier Monate altes Baby getötet wurden, als in der Nähe des Salons eine Submunition einschlug. Die Frau und eine Kollegin wurden verletzt, eine Kundin wurde getötet.  

Die Ukraine setzt Militärkräfte innerhalb der Stadt Charkiw ein, aber bei sieben der Angriffe fand Human Rights Watch kein offenkundiges militärisches Ziel - wie Streitkräfte, Waffenlager oder Stützpunkte - in der Nähe des jeweiligen Angriffs. Bei einem Angriff, bei dem ein Krankenhaus beschädigt wurde, gab es zwar eine kleine ukrainische Militärpräsenz in der Nähe, aber aufgrund des besonderen Schutzes, den medizinische Einrichtungen nach dem Kriegsrecht genießen, war dieser Angriff dennoch unrechtmäßig.

Bei allen dokumentierten Angriffen handelte es sich um offensichtliche Verstöße gegen das Kriegsrecht. Die russischen Streitkräfte haben offenbar wahllos operierende Munition eingesetzt, unter anderem bei drei Angriffen mit Streumunition und drei weiteren mit Sprengstoff in Wohngebieten. Bei drei Angriffen wurden Krankenhäuser beschädigt, davon zwei durch Streumunition. Die Angriffe waren rechtswidrig willkürlich, da sie nicht auf ein bestimmtes militärisches Ziel gerichtet waren oder nicht zwischen Zivilist*innen oder zivilen Objekten und militärischen Zielen unterscheiden konnten.

Seit Februar 2022 haben die russischen Streitkräfte bei Angriffen im ganzen Land wiederholt Streumunition eingesetzt. Hierbei wurden Hunderte Zivilist*innen getötet und Wohnhäuser, Krankenhäuser und Schulen beschädigt. Die ukrainischen Streitkräfte haben seit Beginn der umfassenden Invasion bei mindestens zwei bekannten Gelegenheiten Streumunition eingesetzt. Diese Waffen sind nach dem Übereinkommen über Streumunition von 2008 wegen ihrer weit verbreiteten wahllosen Wirkung und der lang anhaltenden Gefahr für die Zivilbevölkerung verboten. Streumunition öffnet sich in der Regel in der Luft und verteilt willkürlich Dutzende oder sogar Hunderte von kleinen Bomblets über ein Gebiet von der Größe eines Fußballfeldes. Viele dieser Submunitionen explodieren nicht beim ersten Aufprall und hinterlassen so Blindgänger, die dann wie Landminen wirken.

Der Staatliche Katastrophenschutz in Charkiw sagte, dass zwischen dem 24. Februar und dem 7. Mai 2.700 nicht explodierte Submunitionen in der Stadt und den umliegenden Gebieten eingesammelt wurden.

Die russischen Angriffe in Charkiw zeigen, was für verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen es hat, wenn Streitkräfte in bewohnten Gebieten Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung, etwa Streumunition, einsetzen, und dass so die Wahrscheinlichkeit rechtswidriger, wahlloser und unverhältnismäßiger Angriffe steigt. Explosivwaffen sind unpräzise, können einen großen Zerstörungsradius haben und mehrere Munitionsarten gleichzeitig abfeuern. Zu den langfristigen Auswirkungen ihres Einsatzes in bewohnten Gebieten gehören die Beschädigung wichtiger Infrastrukturen, die Beeinträchtigung von Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Vertreibung der lokalen Bevölkerung.

In einem Bericht von Ende Juni kam die humanitäre Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die in der gesamten Ukraine Kriegsverletzte behandelt, zu dem Schluss, dass die Kämpfe geprägt sind „von einem empörenden Mangel an Rücksicht auf Zivilisten, die weder identifiziert noch geschützt werden.” Das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte gab an, dass von den 5.514 getöteten und den 7.698 verletzten Zivilist*innen, die zwischen dem 24. Februar und dem 14. August in der Ukraine gezählt wurden - die Dunkelziffer liegt höchstwahrscheinlich bedeutend höher - die meisten durch Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung verursacht wurden, darunter Beschuss durch schwere Artillerie und mehrläufige Raketenwerfer, Raketen und Luftangriffe.

Russland und die Ukraine sollten dem Übereinkommen über das Verbot von Streumunition beitreten und den Einsatz von Sprengwaffen mit großflächiger Wirkung in Wohngebieten vermeiden, so Human Rights Watch. Alle Länder sollten der vorgeschlagenen Erklärung zur Eindämmung von Explosivwaffen zustimmen und sich für deren wirksame Umsetzung einsetzen, um die Zivilbevölkerung zu schützen.

Schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht, etwa wahllose und unverhältnismäßige Angriffe durch Einzelpersonen, seien sie vorsätzlich oder fahrlässig, sind Kriegsverbrechen. Einzelpersonen können auch für den Versuch, ein Kriegsverbrechen zu begehen, sowie für die Unterstützung, Erleichterung, Beihilfe oder Anstiftung zu einem Kriegsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Befehlshabende und zivile Führungskräfte können wegen Kriegsverbrechen im Rahmen der Weisungsbefugnis strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie von der Begehung von Kriegsverbrechen wussten oder hätten wissen müssen und keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen haben, um diese zu verhindern oder die Verantwortlichen zu bestrafen.

„Die Menschen in Charkiw leben seit Monaten in Angst vor dem nächsten Angriff, da ihre Stadt durch die weit verbreiteten russischen Angriffe mit die schlimmsten Verwüstungen und Todesfälle erlitten hat“, sagte Wille. „Nationale und internationale Staatsanwaltschaften, die Kriegsverbrechen in der Ukraine untersuchen, sollten sich dafür einsetzen, dass die Verantwortlichen für die unrechtmäßigen Angriffe in Charkiw zur Rechenschaft gezogen werden.“

Weitere Informationen über den Angriff der russischen Streitkräfte auf Charkiw und Details zu den acht von Human Rights Watch dokumentierten Angriffen finden Sie hier in englischer Sprache.

 

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